
Abenteuer Schulweg - Döbeln um 1900
Vorbemerkung
Liebe Freundinnen und Freunde der Döbelner Stadtgeschichte,
die Sommerferien neigen sich dem Ende zu. Am 05. August 2024 starten wir in das 156. Jahr der Geschichte des Döbelner Gymnasiums. Wie in jedem Jahr werden über 800 Schülerinnen und Schüler täglich von ihrem Zuhause zur Schule fahren oder laufen. Schulwege sind sehr individuell und können interessant sein.

Kürzlich stieß ich auf die Beschreibung unseres ehemaligen Schülers Martin Wapler (Abitur 1904), der in Großbauchlitz wohnte und jeden Tag von dort zum Gymnasium lief, an dem er vor genau 120 Jahren sein Abitur ablegte. Welchen Weg er wählte und was ihm hier so begegnete, hat er in einem Aufsatz festgehalten, der in der Festschrift zum 50-jährigen Gründungsjubiläum des Gymnasiums 1919 veröffentlicht wurde.
Ich möchte Sie zu einem kleinen Ausflug ins alte Döbeln einladen, habe den Text mit einigen historischen Abbildungen, einer kleinen Karte zur Orientierung und ein paar Erläuterungen ergänzt.
Viel Spaß beim Lesen.
Michael Höhme
Kleine Schulweg- und Schulerinnerungen
Der Erde warmer Segen,
Tauperlen spät und früh
Und Sonnenschein und Regen,
Die kamen, man weiß nicht wie.
aus: "Das Wiegenfest zu Gent" von di Anastasius Grün (1806-1876)
Wie ein heller Sonntag auf stiller Wiese am Wald und ein wechselvoller kühler Apriltag in der Vorstadt, so gegensätzlich erschienen mir Elternhaus und Schule. War doch das Daheim eine stille freundliche von Mühlgraben und Mulde umsäumte Insel, Garten, Feld und Wiesenflur mit Wildenten bergendem Sumpf im Bommerwinkel, wo zuweilen auch der Storch einkehrte. Die Ufer umstanden Baumreihen und Sträucher, und die Landschaft belebten noch einzelne Eichen und eine stolz hochragende Fichte auf der Wiese an der die Insel kreuzenden Straße. Ja, hier war das Glück! Hier, im Kreise der Meinen täglich und stündlich, war ich der Natur am nächsten, vernahm ich ihren Herzschlag, konnte ich sie umarmen, sie lieben lernen.

Die Schule dagegen war eine ziemlich dicht mit kleinen, stillsitzenden Menschlein angefüllte öde Stube, in die ausnahmsweise auch einmal die liebe Sonne hineinschaute. Kein Wunder, wenn ich ihre Schwelle zögernd und schüchtern betrat in der Hoffnung, dass ein Wiederbetreten der Schwelle in entgegengesetzter Marschrichtung nicht zu lange auf sich warten ließe.
Vom Schulweg, der zwischen Heimat und Schule liegt, und wie er am Anfang der 90er Jahre aussah, will ich nur einiges zunächst erzählen.
Erst Hand in Hand mit Geschwistern oder gleichaltrigen Weggenossen, später auch allein, zog ich in die Welt, erst mit den Augen und Winken, dann im Geiste begleitet von den Sorgen und Wünschen der beiden Geliebtesten. Kaum angelangt auf der Breiten Straße nach der Stadt mit ihrem Hasten und Treiben hieß es den sicheren, schmalen Weg aufsuchen, musste den heimischen Gesetzen treu der Weg der Tugend und rechten Lebensführung gewählt und betreten werden.

Wie sah der Schulweg aus? Sehr wechselvoll, ländlich und städtisch. In seiner Länge teilte ich ihn nach bestimmten Merkpunkten in kurzbenannte Strecken ein: auf der Brücke, bei Barthel, bei Pornitz, am sanften Heinrich, an der Taube, am Durchgang, an der Zuckerstraße, bei Großfuß, am Burgstadl, an der Ziegelscheune, bei Weißhorns, am Schlachthof, an der guten Quelle und so weiter. Bei Großfuß musste zwischen der Straße und dem Burgstadl gewählt werden. Ich hatte dort den mehr oder weniger bebauten Teil des Weges hinter mir und wählte dann im Frühjahr und Sommer umso lieber das Burgstadl, denn dieses ähnelte der heimatlichen Flur. Ging ich doch, wenn einmal der schmale Schlackenweg an Großfuß‘ blechhemmernder Fabrik hinter mir lag, im Sommer zwischen hohen blühenden, wohlduftenden Kornfeldern beim Zirben der Grillen und Lärchenjubel dahin. Konnte ich mich doch im Frühjahr zur Blütezeit an den mit Kirschbäumen dicht bestandenen Abhängen des westlichen Muldenufers bei der Ziegelei, bei Saupes versteckt liegender Fabrik, am frischen Grün der den Teich hinterm Burgstadl, am Reichenstein, einfassenden, hohen Birken erfreuen. Dieses Wegstück ließ mich noch einmal Gewässer und freie Natur schauen vorm Untertauchen im Häuser- und Menschengewirr der Stadt. Ging ich die Straße, konnte ich morgens in der offenen Tenne der an der Ziegelei gelegenen Scheune in der ersten Morgensonne das Klipp-Klapp-Klipp der Korndrescher hören.


Auf dem Weg zwischen Schlachthof und Exerzierhaus lagen noch die Wiesen und Hintergärten der Bahnhofstraßenhäuser, zum früheren Hegeborn und zur grünen Au gehörig, offen da und der jetzige Wettinplatz war der Platz der Steinklopfer für den Straßenbau. Dort stand zur Freude der Kinder für kurze Zeit das Zelt des Zirkus Wallenda, der ganz ausgezeichnete Tierdressur vorführte. Östlich des Platzes sah man noch ein kleines Fachwerkhaus, wohl früher das Forsthaus, in dem die allen Kindern bekannte Male Benedix mit Mann und Hund hauste. Damals stand auch noch gegenüber Gebhards in der Schießhausstraße das durch bösen Mord berüchtigte Haus an der Niederbrücke, das sein wohlverdientes Schicksal gefunden hat und vom Erdboden verschwunden ist. Zur Zeit von Sonnenglut und Hitzeferien nahm ich dankbar den dargebotenen Schutz und die Erfrischung der dichten Lindenkronen der Bahnhofstraßenallee und im Winter die hohen Schneewehen an der Ziegelei zum Erproben und Stählen der Kräfte an.


Doch nicht allein auf die Natur, sondern auch auf Menschen und Tiere, die dieselbe Straße zogen, richteten sich die Sinne. Alles, was regelmäßig einem begegnete, zeitweise einem näher trat, wurde zum lieben Bekannten. Das waren die Arbeiter meines Vaters, die ich daheim täglich bei ihrem Wirken betrachten konnte, auf dem Wege von und zur Arbeit, der alte treue Hennig, der freundliche Mühlenbote und Reiter von 1870, der alte Schwarze in seiner hohen Erscheinung, wie ich mir den alten Kaiser vorstellte, der freundliche weitgereiste Mühlenbesitzer und Naturfreund Gaitzsch, die alten Gruhles. Sieh, da kam auch der gute Großvater, Dr. Weidner, mit seinem hohen Hut, auf dem Weg zu seiner Landpraxis, der alte Bäcker, da kamen Viehhändlers Rappen, Uhlmanns Füchse, das Brauereigespann mit seinem Kutscher, der Tronitzer Butter- und Milchwagen. Auch die Omnibusse der drei Hauptgasthäuser waren regelmäßige Erscheinungen, wie die Pferdebahn, deren erste Fahrt ich miterlebte. So begegnete mir manch freundliches Gesicht. Aber, dass nicht überall eitel Menschenliebe herrschte, sollte die ahnungslose kleine Unschuld durch Überfälle und Riemenstreiche eines bösen Buben gewahr werden.


Aber auch fremder, jetzt verschwundener Bilder erinnere ich mich. Wie staunten die neugierigen Augen über die fremden, dunkelhäutigen Gesellen, die Zigeuner, über das fahrende Volk mit Käfigwagen und Äffchen, mit Tanzbär, Kamelen und Dudelsackpfeifer über die Leierkastenmänner und die fröhlichen Bettelmusikanten. Dies waren willkommene Erscheinungen auf dem heiligen Weg zurück von der Schule zum Elternhaus. Jahrmarktszeit lockte mich nicht, noch länger in der Stadt zu bleiben. Im Gegenteil, die bunte Belustigungswiese mit ihren Gerüchen, ihrem menschlichen und musikalischen Durcheinander, ihren Schreiern und glitzernden Gestalten und Gebilden stießen mich ab, vertrugen Augen und Ohren nicht. Hinaus aus der Stadt! war die Losung, und erst vom Burgstadl ab verminderte sich die erhöhte Marschgeschwindigkeit auf dem Heimweg. Welche Freude erst, wenn die Muldenbrücke erreicht war, wenn das Vaterhauses Freude winkte, wie selig, wenn die freundlichsten Augen entgegen leuchteten, der Schwanz des treuen Hundchens wedelte, die bis heute treu gebliebene Lebensgenossin, die Schildkröte, entgegenkam.
Martin Wapler besuchte drei Döbelner Schulen. Zuerst fand er an der Schlossbergschule (li.) Aufnahme, die Wapler wegen ihrer Lage als "Muldenschule" bezeichnet. Dann wechselte er an die Körnerplatzschule (Mitte) und hatte so gute Leistungen, dass er am Realgymnasium (re.) aufgenommen wurde. Hier fühlte er sich gut aufgehoben, bezeichnet die Schule als "Alma Mater", als "nährende Mutter", weil Schüler hier mit Wissen und Bildung "gefüttert" wurden. Das Gymnasium verortet er in der Königstraße. So hieß damals die heutige Straße des Friedens.


Nun einige kurze Erinnerungen an die Schulzeit. Als kleinstem der Klasse kam mir mein erster Lehrer, Herr Mahn, auf dem Schlossberg besonders freundlich entgegen; war ich doch mit Hilfe der kleinen strammen Beinchen nach langem Marsch bei jedem Wetter pünktlich zur Stelle. Hier auch empfingen den kleinen stadtfremden Wicht vom Lande zwei besonders besorgte behilfliche und zutrauliche Stadtkinder, Armin und Max. Hier erfuhr ich zum ersten Mal treue Kameradschaft. Zum Lohn hierfür durften sie auch in meiner ländlichen Heimat sich tummeln. Nach Besuch der etwas engen Muldenschule und der freundlicheren und lustigeren Körnerschule kehrte ich schließlich in unserer geliebten Alma Mater an der Königstraße ein. Dankbar gedenke ich ihrer und insbesondere derer, die uns gelehrt und angehalten haben zur Pflichterfüllung, zur Pflege der Sinne und des Herzens, zur Stählung von Geist und Körper. Mir unvergesslich bleibt die Erinnerung an die als Sextaner miterlebte Feier des 25-jährigen Bestehens der Schule. Hierbei wurde ich Zeuge der Anhänglichkeit und Treue so vieler alter zum Fest herbeigeeilter Schüler, stieg meine Achtung vor den älteren Schülern ein Beträchtliches. Sangen sie doch in der wohl gelungenen Aufführung von Uhlands „Herzog Ernst von Schwaben“ das hohe Lied der Freundestreue bis in den Tod. Besonders die Helden und ihre Darsteller, Schmiedels Werner und Köthens Herzog Ernst und ihr Tod haben mich damals begeistert. Beide Darsteller deckt schon heute die kühle Erde. Treue und Freundschaft, sie leben noch heute. Zum Sedantage 1895 gehörte und gesungene Vaterlandslieder, als Schulsänger miterlebte Aufführungen kirchlicher und weltlicher Musik unter Leitung des väterlich freundlichen Professor Stübner werde ich nie vergessen, ebenso wenig die Stunden bei Professor Dost (1. Reihe, 2.v.re.), in denen wir auch einmal von Bismarcks Vaterlandsliebe und menschlichem Wesen, von deutscher Art und Kunst hören durften, die erbaulichen Stunden über Goethe, Schiller, Lessing und Kant bei Professor Hentschel (1. Reihe, 3.v.li.), die geschichtlichen feinen Schilderungen des edlen Professor Masius (3. Reihe, 1.v.li.) und die schlichten Offenbarungen Oberlehrer Schieferdeckers (2. Reihe, 1.v.re) über Kunst und Natur. Ebenso gern aber gedenke ich auch der gesunden, abwechslungsreichen, den Körper kräftigenden Turnübungen Oberlehrer Stolz’s (3. Reihe, 1.v.re). Kurz, die Sonne schien auch aus der Schule, wie in der Schule. Trotzdem habe ich in der Aula vor den Ferien gewiss nichts aus vollerem Herzen gesungen, als Gesangbuchlied 17. Text und Weise dieses herrlichen Liedes sind auch jeden zu Herzen gegangen; das merkte ich stets am volleren Chor.

In ernster Zeit betrete ich in Dankbarkeit mit vielen alten, treuen Schülern und Segenswünschen die Schule, in der ich oft den Scheidenden den Abschiedsgruß gesungen:
Nun stoßet das Schifflein vom Lande
und lasset die Wimpel Wehen!
es rufen die Freunde am Strande:
lebt wohl, auf Wiedersehen!
und ich darf heute ebenso herzlich Alt und Jung zurufen:
So seid mit Gott gegrüßet,
gegrüßt viel tausendmal!
M. Wapler

Quelle:
Verein ehemaliger Döbelner Realgymnasiasten und Landwirtschaftsschüler (Hg.): Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des Staats-Realgymnasiums und der höheren Landwirtschaftsschule zu Döbeln am 05. und 06. Juli 1919. Döbeln 1919, S.43-46