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Zeitzeugenbericht

Johanna Schönstedt

Johanna Schönstedt geb. Lorenz um 1946 und 1998

Johanna Schönstedt (1922-2015) verfasste ihre Erinnerungen an das Kriegsende 1945 im Mai 2002.

Die letzten Tage und Wochen vor dem 8. Mai 1945 erlebte ich wie folgt in Döbeln: Seit 1939 arbeitete ich als Angestellte in der Stadtbank-Stadtsparkasse Döbeln. Wir waren im Erdgeschoß des Rathauses untergebracht.

Monate vor dem 13.2.1945 - dem Angriff auf Dresden - mußten wir Angestellten wechselweise nachts im Rathaus, im Oberstock, als Brandhelfer auf Feldbetten schlafen. Wir hatten als Brandhelfer keine Ausbildung. In den oberen Räumen standen Wasserkübel und Feuerpatschen. Damit sollten wir Brände bekämpfen.

Am Tag mußten wir genau so arbeiten wie die anderen Kollegen, es gab keine Freistunden. Damals gab es noch die 48-Stunden-Arbeitswoche. Wir Angestellten in der Giroabteilung und Sparkasse waren sehr benachteiligt. Oft mußten wir am Abend stundenlang Fehler suchen. Täglich waren drei Personen zur Fehlersuche eingeteilt.

Am Silvestertag wurde bis nachts Jahresabschluß getippt. Die Arbeit ging am Neujahrstag ab 9.00 Uhr mit dem Datenvortrag weiter. Frau Schulze, Marci und Herr Günther hatten hier die Führung. Am Neujahrstag erschien vormittags der Oberbürgermeister Dr. Gottschalk und brachte uns einen Stollen für den Nachmittagskaffee. Das war alles.

Fünf Mark Weihnachtsgeld bekamen wir jedes Jahr als städtische Angestellte. Davon wurden 1,80 Mark Steuern abgezogen. Darüber waren wir jedes Mal verärgert. In den acht Jahren meiner Tätigkeit habe ich keine einzige Überstunde bezahlt bekommen. Die Arbeit wurde anfangs mit BAT-Verg.-Gr. VIII und später bei Bewährung mit BAT-Verg-Gr. VII vergütet.

Im Laufe des Jahres 1944 wurden zwei Kolleginnen zur Flak eingezogen. Anne Wagner und Gertraude Petzold traf das. Unser verehrter Direktor Reuther hat mich wie auch Rosel Heinze, Elfriede Nagel, letztere tüchtige Kassiererin in der Girokasse, davor bewahrt.

Die Herren Lindner, Kunze und Biesegger waren noch da. Immer mehr Männer waren eingezogen worden. Sie wurden durch Frauen aus bombengeschädigten Gebieten ersetzt. Bei uns arbeitete eine Nichte des Feldmarschall Rommel, die in Brilon ausgebombt war.

Die hier verbliebenen Männer mußten in den letzten Wochen vor Kriegsende in SA-Uniform zum Dienst erscheinen, sofern sie Mitglied dieser Parteigruppe waren. Herr Günther hat immer wieder über den Kreisleiter geschimpft, das traute sich sonst niemand.

In den letzten Tagen vor dem 8. Mai, zogen große Kolonnen von Strafgefangenen in Holzpantinen, neben dem Schlegelbrunnen am Rathaus vorbei. Alle unter Bewachung. Wir waren wie erstarrt, als dieser Unglückshaufen von Menschen bei dieser Kälte vorbeizog. Angst, Angst hatten wir und die Gedanken waren, so werden wir vielleicht auch einmal getrieben werden.

Am Sonnabend vor dem 8. Mai mußten wir normal arbeiten. Unser Kassierer, Herr Günther, war vormittags zur Girozentrale nach Dresden gefahren um Silbergeld zu holen. Er brachte mehrere Säckchen mit. Später, nach Kriegsende, haben wir Silbergeld abheben können, aber bald durften nur noch 100 Mark pro Monat vom Sparkonto abgehoben werden. Das sogenannte eiserne Sparen war verloren, davon gab es keine Aufwertung.

An diesem Sonnabend vor dem 8. Mai verkündete durch den Rathauslautsprecher eine Stimme: "Die Russen wären durchgebrochen, es gäbe Schießereien, wer nachdem Westen ausweichen wolle, sollte, dürfte gehen?“ Wir rasten alle sofort nach Hause, ich wohnte Alexanderstr. Nr. 7. Ab hier sind meine Schwester Eleonore und ich geflüchtet.

Wir verließen unsere guten Eltern. Ursprünglich wollten wir nach Mönchengladbach zu unseren Flüchtlingsfamilien Wolter und Müller. Diese Familien wohnten, nachdem sie in Mönchengladbach ausgebombt waren, seit ca. 1941 auch in der Villa Liebert in Großbauchlitz, Alexanderstr. 7.

Sie waren einen Tag vor uns losgezogen, um in ihre rheinische Heimat zu gelangen.

Vor Waldheim angekommen, warnten uns Leute vor den freigelassenen Häftlingen aus dem Zuchthaus. Aber wir zogen weiter, bei noch sonnigem Wetter. Dann gelangten wir bis zu dem Ort Hausdorf bei Colditz. Dort lagen die amerikanischen Truppen gegenüber der Mulde.

Wir fanden Unterkunft bei Frau Singer und diese sagte uns, daß die Amerikaner niemand, über die Mulde lassen. Am nächsten Tag entschlossen wir uns deshalb nach Chemnitz zu ziehen. Frau Singer und ihre beiden Kinder baten uns inständig bei ihnen zu bleiben. Herr Singer war noch im Krieg irgendwo. In ihrem kleinen Laden mußte die Frau Singer an diesem Tag Sirup an die Bevölkerung verteilen. Inzwischen waren zwei SS-Offiziere in ihr Schlafzimmer im 1. Stock eingedrungen. Ich überraschte die beiden, als sie Anzüge von H. Singer aus dem Schrank nahmen. Sie zogen die Zivilsachen an und ließen die SS-Uniformen liegen und hauten sofort ab.

Wir haben die hilfsbereite Frau Singer und ihre Kinder verlassen. Mit dem Fahrrad ging es weiter Richtung Chemnitz. Unterwegs trafen wir den langen Pferdewagen-Treck vom Rittergut Oberjahna. Dort hatte meine Schwester ihr Pflichtjahr gemacht. Sie sprach mit den ebenfalls auf der Flucht befindlichen Oberjahnaern, die nach Bayern wollten.

Rittergutsbesitzer,Herr Gansauge, war verwandt mit dem Rittergutsbesitzer Vogelsang in Ebersbach bei Döbeln. Mit dem jüngsten Sohn Christian Vogelsang haben wir oft gespielt im Park und Gemüsegarten vom Rittergut Ebersbach. Wir wohnten bis 1936 in Ebersbach nahe dem Rittergut. Christian, Hans Heinrich und Emst August Vogelsang, alle sind gefallen.

Vor der Stadt Burgstädt bei Chemnitz trafen wir Frau Klemm, die Frau vom Rektor des Döbelner Realgymnasiums, mit ihren Kindern. Diese waren auch auf der Flucht nach irgendwo.

Jetzt trafen wir ab und zu amerikanische Soldaten. Die Töchter Klemm konnten sich mit den Amerikanern sehr gut verständigen, in Englisch. Diese Soldaten waren immer freundlich in den Gesprächen.

Weiter ging es bei herrlichem Sonnenschein. Jetzt trafen wir einen Eisenbahnbeamten in Uniform, die noch Hakenkreuzknöpfe hatte. Er wollte unbedingt nach Riesa, aber wir baten ihn mit uns zu kommen. So gelangten wir nach Chemnitz.

Das Fahrrad meiner Schwester streikte immer wieder, wir mußten mehr zu Fuß marschieren. Diese Anstrengung brachte mir eine schmerzhafte Lymphdrüsenentzündung ein. Eigroß war die Drüse in der Leiste und es gab keinen Arzt. Das tägliche Wasserholen war mir eine Qual. Später bin ich wieder gesund geworden.

Unsere Verwandten in Chemnitz haben uns gut aufgenommen und wir waren dankbar, sie heil anzutreffen. Wir schliefen eine Nacht und hörten Marschtritte in dieser Nacht. Da marschierten die russischen Truppen ein.

Wir blieben nur ca. zwei Wochen in Chemnitz. Da dort alles ziemlich ruhig war, entschlossen wir uns mit unserem Onkel nach Döbeln zu ziehen. Wieder waren wir mit den Fahrrädern unterwegs. Schon nach kurzer Zeit wurde unserem Chemnitzer Onkel Erich von einem russischen Soldaten das Fahrrad weggenommen. Das war ein harter Schlag für uns, nun ging es per Fuß weiter bis Döbeln.

Das Wiedersehen in Döbeln: Die Nachbarin, Frau Kluge, hatte unseren schwer erkrankten Vater versorgt. Er hatte Nierenbluten und große Schmerzen dabei. Unsere Mutter war nicht da, sie war mit der Familie Liebert auch geflüchtet. Der Vater weinte vor Freude, als wir uns wieder sahen.

Die in der Villa Liebert untergebrachte Familie Alt aus dem Rheinland war auch noch in der Villa geblieben. Wir zogen alle zusammen in den Luftschutzkeller. Dieser befand sich in der Maschinenfabrik nebenan. Frau Alt war eine mutige Frau, sie hatte ihren Radioapparat nicht abgegeben. Bei strenger Strafe war es verboten, noch einen Apparat zu besitzen und zu benutzen. Der Apparat stand nun in unserem Luftschutzkeller in der Maschinenfabrik, wo wir alle schliefen.

Nach mehreren Wochen kam unsere liebe Mutter mit der Familie Liebert und einer fremden Frau mit deren zwei Kindern in der Alexanderstr. 7 an. Auf einen kleinen Handwagen hatten sie Kleidung gepackt und die drei Kinder daraufgesetzt. Auf Frau Lieberts Handtasche, in dem der Schmuck lag, saß Evelyn Liebert als 3. Kind, damals 6 Jahre alt.

Die Frau, mit den beiden kleinen Kindern, die sich Lieberts und meiner Mutter angeschlossen hatte, kam aus der Tschechoslowakei. Dort war ihr Mann, ein hoher Polizei-Offizier, von der wütenden Menge erschlagen worden.

Familie Liebert und meine Mutter hatten in der verlassenen Schloß-Villa des Fabrikanten Dietze Unterkunft gefunden. Herr Dietze war ein enger Geschäftsfreund von Herrn Liebert. Familie Dietze waren nach Bayern geflüchtet. Die Schloß-Villa befand sich in der Nähe von Schneeberg/Erzgeb. Dort war für einige Zeit unbesetztes Niemandsland. Jahre später sah ich in Westberlin einen Schwarz-Weiß-Film über dieses unbesetzte Niemandsland. Bei der Aufteilung von Deutschland war von den Alliierten dieser Landstrich vergessen worden. Er wurde erst später besetzt.

In diesen Gebietsstreifen des Erzgebirges hatten sich auch die "Wlassow-Truppen" mit ihren Familien hingezogen. Der russische General Wlassow hatte auf Hitlers Seite gekämpft. Keine Verhandlung konnte diese Menschen retten, sie sind unter Stalin umgekommen.

Nach unserer glücklichen Rückkehr durfte ich weiter in der Sparkasse arbeiten. Wir mußten aus dem vom Kommandanten besetzten Rathaus in die Räume der ehemaligen Arbeitsfront umziehen. 1945 war kein großes Geldgeschäft möglich, wir hatten nur abzuwickeln. Ein ruhiger Geldbetrieb.

Eines Tages kam vom 2. Kommandanten ein Anruf aus dem Rathaus. Der erste russische Kommandant hatte die Tresorschlüssel der Stadtbank- Girokasse mitgenommen. Direktor Reuther mußte von der Geldschrankfirma Kästner in Leipzig Monteure kommen lassen, diese mußten mühevoll die großen Stahltüren öffnen. Der Kommandant hat nun befohlen die Schließfächer im Tresor zu öffnen.

Uns war ein gebildeter Offizier und ein Soldat als Aufsicht beigegeben. Fach für Fach wurde geleert und immer die Frage: „Nazi?“ Der Offizier erzählte uns viel von der Eremitage in Leningrad. Von den kostbaren Bilderschätzen habe ich damals keine Ahnung gehabt.
Zwei Vormittage waren wir im Rathaus-Tresorraum und beide Male durften wir an einer langen Tafel mit dem Kommandanten und seinen Offizieren warmes Mittagessen einnehmen. Im Tresor habe ich die Schließfachliste geführt und Frl. Marci hat Protokolle über die Beschlagnahme geführt.

Ich hatte eine Freundin in Döbeln, Gretel Kühne, Tochter des Kalkwerkdirektors in Rittmitz bei Ostrau. Deren Mutter war im Krieg Leiterin eines Ostarbeiter-Mädchen-Heimes. Da die Mutter gut und menschlich für die armen verschleppten Mädchen gesorgt hatte, wurde sie von diesen nach Kriegsende reichlich belohnt. Sie bekam die so dringend benötigten Lebensmittel und andere Hilfen.

Leider weiß ich nicht wo Gretel Kühne mit Mutter und Schwester verblieben ist. Ich lebte nach 1947 nicht mehr in Döbeln.