
Zeitzeugenbericht
Eleonore Bleicher geb. Lorenz um 1946 und 2000
Eleonore Bleicher geb. Lorenz (1923-2015) verfasste ihre Erinnerungen an das Kriegsende 1945 im Mai 2000.
Als die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg auf das Rheinland und das Ruhrgebiet immer intensiver wurden, evakuierte man die Kinder und Schüler aus dieser Region. Viele wurden von Familien aufgenommen, aber auch ganze Schulklassen kamen geschlossen nach Sachsen. Einige Räume der Großbauchlitzer Schule wurden als Unterkunft hergerichtet. Wir, als Mitglied des BDM, halfen dabei, z.B. Betten beziehen usw. So hatten wir dann auch weiteren Kontakt auf dem Sportplatz oder zu Veranstaltungen, vor allem mit dem Betreuer Willy Müller. Hieraus entstand eine Freundschaft. Kam ich mittags mit dem Rad vom Dienst, begegnete ich meist der Truppe, die zum Mittagessen in die "Weiße Taube" marschierte. Begrüßt wurde ich dann mit einem Marschlied wie "Oh, Oh Abessinia, oh mein Italia ..." Nach einer gewissen Zeit fuhren alle wieder in ihre Heimat zurück nach Mönchengladbach. Meine Freundschaft bestand auch weiterhin und so beschloß ich, dort bei der Mutter einen Besuch zu machen. Die Fahrt war nicht ungefährlich, denn in Bochum gab es Fliegeralarm. In Gladbach erlebte ich einen direkten Angriff mit Brandbomben. Die Einheimischen schliefen seit langem im Luftschutzbunker, wie dann auch ich. Der Krieg wurde immer totaler, und Frau Müller wie auch ihre Schwester Frau Wolter verloren ihr Heim durch die Bomben. Frau Müller war verwitwet. Sie und die Familie ihrer Schwester kamen nun zu uns nach Döbeln. Ehemann und Sohn mußten allerdings dort weiterarbeiten. Aber die beiden Töchter waren mit hier. Sie wohnten alle in der Villa von der Fam. Liebert, wo mein Vater als Hausmeister angestellt war. Willy M. war unterdessen zur Kriegsmarine eingezogen worden und befand sich zuletzt in der eingeschlossenen Festung La Rochelle, wo er verwundet wurde und im Januar 1945 starb.
Als der Krieg sich Anfang Mai seinem Ende näherte, beschlossen Frau Müller und Frau Wolter die Heimkehr. Sie wollten auf keinem Fall der "Russischen Dampfwalze" in die Hände fallen. Obwohl die Amerikaner schon in der Nähe waren, ein Spähtrupp sogar bis Westewitz vordrang, befürchteten wir den Vormarsch der Russen. Bald wurde die Situation heikler durch Tiefflieger und Schlachtenlärm aus der Nähe von Lommatzsch. Frau Müller und Schwester borgten sich einen Leiterwagen und brachen in Richtung Töpeln auf.
Die Unruhe übertrug sich auch auf uns und so starteten meine Schwester und ich mit dem Fahrrad auch in diese Richtung ca. eine Stunde später. Langsam schwand unterwegs die Hoffnung Frau M. wiederzutreffen, da es nun auch schon langsam dunkel wurde. Der Aufstieg zur Töpelstraße war schwierig durch ausgehobene Erde quer zur Straße. Das waren sogenannte Panzersperren. Mit dem Vorderrad geriet ich in so eine Vertiefung, konnte mich aber trotz des schweren Gepäcks auf dem Rad aus der Vertiefung befreien. An der Peripherie von Hartha beschlossen wir, nicht weiter ins Ungewisse zu fahren. So nahm uns eine gastfreundliche Frau bis zum nächsten Morgen in ihrem Hause auf. In Colditz hatten die Amerikaner einen Kontrollpunkt, in diese Richtung fuhren wir. Unterwegs trafen wir Frau Klemm, die Frau des damaligen Rektors vom Döbelner Gymnasium. Sie war mit ihren jüngsten Kindern auf dem Wege zu ihrer Mutter nach Bad Lausick. Die Dienstwohnung wurde geplündert und verwüstet. Die älteste Tochter Sabine war wie ich im Döbelner Krankenhaus beschäftigt. Als sie zur Flak einberufen wurde, besaß sie keine warme Unterwäsche, so daß ich ihr eine Garnitur schenkte. In Colditz war für uns alle die Reise zu Ende. Frau K. kam für einige Zeit in ein Auffanglager und wir zogen uns wieder zurück und fanden bei Frau Singer in Hausdorf Unterkunft. Anfänglich wollten wir ja wieder nach Döbeln zurück, doch begegneten wir weiteren Flüchtlingen aus Döbeln, die uns berichteten über die Öffnung des Waldheimer Zuchthauses und über Plünderungen. Ihr war unsere Gegenwart nicht unangenehm, da sie mit ihren zwei Kindern allein im Hause war und schon Erfahrungen mit den Amis gemacht hatte. Vor allem galt ihre Angst den schwarzen Soldaten, die in der Gegend patrouillierten. Aber wir wollten weiter versuchen jetzt über die Zwickauer Mulde zu kommen, was aber nicht gelang. Die Brücken waren mit Kontrollposten besetzt. Unterwegs in südlicher Richtung trafen wir dann einen langen Treck der Familie Gansauge aus Oberjahna bei Meißen. Dort hatte ich 1938 mein Pflichtjähr abgeleistet. Dann trafen wir einen Eisenbahner, der auf seinen Uniformknöpfen noch das übliche Hakenkreuz hatte. Obwohl er in eine andere Richtung wollte, schloß er sich auf unser Bitten uns an und so kamen wir über Burgstädt nach Chemnitz zu unseren Verwandten. Erbaut von unserem plötzlichen Aufkreuzen waren Tanten und Großmutter nicht, zumal wir auch den Eisenbahner mitbrachten, dessen Uniform die suspekten Knöpfe aufwies. Sie wurden dort erstmal abgetrennt und gegen neutrale Knöpfe ersetzt.
Am nächsten Morgen erlebten wir vom Fenster unseres Nachtlagers den Einmarsch der Russen. Endlos war der Zug, der aus Richtung Ebersdorf über die Frankenberger Straße in die Stadt marschierte. Wir spürten nicht so viel in Hilbersdorf von der Besatzung, ja wir bekamen sogar Bezugsscheine für Lebensmittel. Da ich in Döbeln in Zahnbehandlung war, suchte ich in Hilbersdorf einen Zahnarzt auf. Die Praxis hatte keinen Strom, so daß der Zahnarzt durch kräftiges Bedienen eines Pedals ein Schwungrad in Bewegung setzte und Strom erzeugte. Details weiß ich darüber nicht mehr. Unterdessen war bekannt geworden, daß ein Zug von Chemnitz nach Hainichen fahren würde. Da beschlossen wir die Rückkehr nach Döbeln. Tante Hilde und Onkel Erich, die auch ihr Heim durch Bomben auf der Zeppelinstraße verloren hatten und ebenfalls mit in Großmutters Wohnung lebten, wollten sich uns anschließen, um ihre. Habseligkeiten aus Mochau zu holen, die sie dort ausgelagert hatten. Die Räder wurden im Waggon verstaut. Ab Hainichen fuhren wir dann mit dem Rad. Auf den Straßen kurvten Ostarbeiter hin und her, und wir hatten Mühe, sie abzuwehren. Onkel Erich haben sie sein Rad gestohlen.
In Döbeln fanden wir nur unseren Vater vor. Mutter war in letzter Minute mit Lieberts nach Schneeberg im Erzgebirge gefahren. Dort hatte ein Geschäftsfreund von Herrn Liebert ein großes Anwesen. Mein Vater hatte eine unruhige Zeit in dem verlassenen Haus hinter sich, wurde von einer Nierenblutung befallen und suchte dann Zuflucht bei Fam. Kluge, die eine Dienstwohnung im Fabrikgelände hatten. In der von den Russen besetzten Villa wurde er als Kapitalist angesehen und war seines Bleibens nicht mehr sicher. In der unruhigen Zeit schliefen wir im Luftschutzkeller der Maschinenfabrik, dessen Eingang durch ein Maschinenteil getarnt wurde. Meine Stelle war noch unbesetzt, doch später hätte ich nicht kommen dürfen! Mutter kehrte dann mit Lieberts nach einer Woche zurück, allerdings nicht im Auto, sondern mit Handwagen. Herr Liebert durfte sein Grundstück nicht wieder betreten. Sie wohnten fortan im Haus der Familie Maus Leipziger Straße 92. Frau Maus ihr Mann war bei der Kriegsmarine U-Boot-Kommandant. Von einer Feindfahrt kehrte er mit seiner Besatzung nie wieder zurück (1).
Nach Wochen erfuhren wir auch, daß Frau Müller wieder in Gladbach war. Wochenlang hatte sie und ihre Verwandten in einer Zone zwischen beiden Besatzungsmächten gelebt, bis die Heimreise endlich möglich war.
Unsere Rucksäcke, die wir ja in Hausdorf bei Frau Singer deponiert hatten, bekamen wir auch unversehrt wieder. Ehemalige französische Kriegsgefangene, die in der Firma beschäftigt waren, hatten anläßlich eines Paßantrages zur Rückkehr in die Heimat in Colditz zu tun, und auf Vaters Bitten brachten sie das Gepäck auf dem Rückweg mit zurück.
(1) Korrektur und Anmerkung - Der Kommandant von U-185, August Maus, wurde August 1943 vor Brasilien versenkt. Er überlebte und kam mit einem Teil seiner Mannschaft und auch der von U 601, die er vorher gerettet hatte, in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach der Wende besuchte er sein Haus Leipziger Straße 92, erhielt es auch von der DWVG zurück. Maus ist 1996 in Hamburg verstorben (Detlev Bleicher, Januar 2025)