
Zeitzeugenbericht
Erika Schöppke
Erika Schöppke, 1925 in Döbeln geboren, ist eine besondere Zeitzeugin. Nur wenige Döbelner können auf ein so langes Leben zurückblicken. Bei Frau Schöppke verbindet sich das mit dem glücklichen Umstand, dass sie sich ganz deutlich an Details erinnern kann und diese in größere politische und gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen kann. Das Gespräch mit ihr empfand ich als außerordentlich inspirierend und ich bin dankbar für die vielen Informationen, die sie zu den unterschiedlichen Geschichtsepochen geben konnte. Ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Familie stehen exemplarisch für das, was viele Döbelner erlebten und erlitten. Dass dies dank ihres Berichts der Nachwelt überliefert wird, ist ein glücklicher Umstand. Nach unserem Gespräch zeigte mir Frau Schöppke in allen Räumen ihrer Wohnung zahlreiche Fotografien, die sie beim Wandern und Bergsteigen in der ganzen Welt zeigen. Sie besuchte Feuerland, den Kaukasus, die Alpen und viele andere schöne Orte dieser Welt. Vielleicht ist die Erkenntnis, dass man das Leben genießen muss und es aktiv gestalten sollte auch eine Erkenntnis aus ihren Erlebnissen als junge Frau. Hier merkte sie, dass ein Menschenleben schnell vorbei sein kann und das Überleben manchmal von Zufällen abhängt. Das Leben ist ein kostbares Geschenk, man muss es nutzen. Vielleicht ist das die wichtige Erkenntnis einer hundertjährigen Frau, die wir uns merken sollten.
Das Gespräch wurde am 23. Mai 2025 in der Wohnung von Frau Schöppke in der Ludwig-Jahn-Straße geführt. Der nachfolgende Bericht fasst wesentliche Aussagen von Frau Schöppke zusammen.
Michael Höhme
Erika Schöppke um 1945 und 2025
An die Kriegszeit habe ich nur einige Erinnerungen, die natürlich etwas mit meinen Lebensumständen damals zu tun haben. Zum Beispiel habe ich mich 1943 freiwillig zur Feuerwehr gemeldet. Da gab es eine Frauen-Feuerwehr, der der Mühlenbesitzer Günther von Bauchlitz vorstand. Eine Tochter von Herrn Güttler, der in der Bäckerstraße ein Wäschegeschäft hatte, fuhr das Feuerwehrauto. Die Frauen-Feuerwehr gab es, weil die Männer fehlten. Sie waren zum Militär eingezogen worden, teilweise gefallen. Es gab ja nur noch wenige Männer, die während des Kriegs da waren. Wahrig vom Schuhhaus am Obermarkt war noch mit dabei, Kress, der einen Kostümverleih am Obermarkt betrieb, und noch einige andere. Wir haben Theaterwachen geschoben, einen Brand in einem Wald nahe Keuern gelöscht und sind zu einem Hausbrand nach Forchheim gerufen worden. Das war zwar nur ein Nebengebäude, aber wir mussten eine lange Wasserleitung legen, weil der Feuerwehrteich weit entfernt war. Nach der Wende habe ich bei der Feuerwehr nachgefragt, ob es eine Chronik gibt, was leider nicht der Falls ist. Zwei oder drei Fotografien habe ich hier vorbeigebracht, damit die Geschichte der Döbelner Frauenfeuerwehr nicht ganz vergessen wird.
Ende 1944 oder Anfang 1945 bekam ich ein Schreiben der NSDAP-Kreisleitung, dass ich nicht würdig wäre, in die Partei aufgenommen zu werden. Das lag an der Feuerwehr. Weil ich mit diesen Diensten ausgelastet war, bin ich nicht mehr zum BDM gegangen. Bei den Jungmädchen war ich und kann hier auch nicht sagen, dass wir stark politisch beeinflusst worden wären. Ich kann mich hier nur noch an eine Wanderung zum Kloster Altzella erinnern. Auf den Wiesen blühte Wollgras, was man uns erklärte. Das habe ich mir bis heute gemerkt. Zur Schule bin ich am Körnerplatz gegangen und habe keine besonders guten Erinnerungen. Besonders wegen der Lehrer. Der Lehrer Dreißigacker kam immer in Naziuniform, der lange Müller von der Albertstraße kam auch in SA-Uniform. Unter den Lehrern gab es stramme Nazis, aber es waren nicht alle so.
Mit Blick auf die Oberen der NSDAP in Döbeln habe ich nur noch Erinnerungen an Dr. Gottschalk, den Oberbürgermeister. Dem habe ich einiges zu verdanken. Wir wurden während des Krieges in das Gebäude der Arbeitsfront bestellt und bekamen einen Vertrag, der uns zum Militär verpflichtete. Was wollte man machen, wir unterschrieben den Vertrag. Dann haben wir das unseren Bankdirektor, Herrn Reuther gesagt und der ist zum Dr. Gottschalk gegangen. Der hat uns zu sich bestellt. Wir standen da wie „arme Schäfchen“ und er hat uns einen Vortrag gehalten, warum wir solche Verträge unterschreiben. Wir haben ihm gesagt, dass wir dachten, wir hätten keine Wahl. Er hat dann dort angerufen und hat gesagt: „So geht es nicht.“ Die jüngste Tochter vom Friseur Löbel musste dann die Verträge stornieren und vernichten. Ich habe Dr. Gottschalk zu verdanken, dass ich in Döbeln bleiben durfte und nicht zum Militär musste. Als großen Nazi habe ich ihn nicht erlebt. Er hat mich allerdings mal erwischt, als ich im Rathaus das breite Geländer runtergerutscht bin. Er hat mich zu sich gerufen und mich zur Rede gestellt. Ich kannte ihn, weil ich ihm jede Woche sein Gehalt nach Hause bringen musste. Er wohnte dort, wo jetzt der Kindergarten „Berta Semmig“ ist, und ich fragte mich immer, warum wir nur einmal im Monat Geld bekommen und er wöchentlich, als ob er nicht mit Geld umgehen könnte und nicht wüsste, wie man sich das einteilt.
Als am 13. Februar 1945 Dresden brannte, musste auch die Döbelner Feuerwehr hin. Die Männer sagten, dass sie uns Frauen nicht mitnehmen wollen. Sie erzählten, dass man die Leichen hätte in eine Zigarrenkiste stecken können, so gänzlich waren die Menschen verbrannt. Die Engländer haben zwar behauptet, sie hätten keine Phosphorbomben abgeworfen. Das stimmte aber nicht, diese Bomben wurden eingesetzt. Menschen haben in der Elbe gebrannt. Dresden war keine Kriegsstadt, war zu der Zeit voller Flüchtlinge. Wir haben alle Angriffe, auch diesen besonders Schlimmen, vom Geyersberg aus gesehen. Die Bomber sind regelmäßig über Döbeln geflogen, es war immer wieder Fliegeralarm. Ich musste jede Nacht ins Rathaus, weil wir Bereitschaft hatten. Bis meine Mutter mich nicht mehr geweckt hat. Sie sagte: „Früh musst du auf Arbeit gehen, du gehst mir ja vor die Hunde.“ Ich bin oft im Stockdunklen den Geyersberg Richtung Stadt gelaufen. Dort, wo früher die Pappeln standen, und man einen guten Blick auf Döbeln hatte, habe ich gedacht: „Ob du die Stadt mal wieder beleuchtet siehst.“ Sie war durch den Verdunklungsbefehl rabenschwarz. Trotzdem hat man die Häuser durch den Schein von „Christbäumen“, die über anderen Städten abgeworfen wurden, gesehen. Es ist verwunderlich, dass Döbeln nicht bombardiert wurde, weil doch zum Beispiel Großfuß Maschinengewehre, also wichtige Rüstungsgüter, herstellte. Das wusste ich von meinem Vater.
Alles musst der Rüstung dienen. An das Reiterstandbild, das 1943 vom Niedermarkt abgebaut wurde, um aus dem Metall Munition herzustellen, kann ich mich nicht mehr erinnern, aber daran, dass die Glocken der Nicolaikirche eingeschmolzen wurden. Uns forderte man auf, unsere Schlitten abzugeben. Wir hatten einen großen Hörnerschlitten, den mussten wir abgeben. Und dann sollten auch noch die Fahrräder abgegeben werden. Weil ich das von der Polizei gehört hatte, bin ich in den Garten und habe im Schuppen mein Fahrrad auseinandergebaut und die Einzelteile versteckt.
1945 kamen viele Flüchtlinge nach Döbeln, viele Familien aus Ostpreußen waren in der Muldenterrasse noteinquartiert. Meine Mutter hatte Mitleid mit diesen Menschen und nahm eine Frau mit ihrer Tochter bei uns Zuhause auf. Wir haben damals in der Geyersbergstraße 32 gewohnt. Das war das Haus gleich hinterm Bäcker.
Im Mai 1945, als der Einmarsch der Russen unmittelbar bevorstand, haben wir jungen Mädchen das Geschehen vom Dach aus beobachtet. Wir saßen auf dem Brett, das den Schornstein mit dem Dachfirst verband und eigentlich für den Schornsteinfeger gedacht war und blicken nach Norden. Wir haben zu der Zeit das Haus nicht verlassen. Immer wieder sah man vereinzelte Soldaten, auf dem Gelände der Ziegelei Riedel fielen Schüsse, die Wehrmachtsoldaten auf der Flucht noch abgaben. Wir hatten Angst vor den Russen, waren durch die Propaganda der Nazis verunsichert. Von hier aus haben wir gesehen, wie Soldaten oben von Zschepplitz reinkamen. Weil viele Armeeverbände unterwegs waren, wussten wir anfangs nicht, wer es war. Kurz bevor die Russen kamen, waren Truppen des Wehrmachtgenerals Schörner durch Döbeln marschiert. Sie verließen die Stadt über den Geyersberg. Danach wurde hier eine Panzersperre aufgebaut. Das waren nur Baumstämme, weil man keine Zeit hatte, die Straße auszuheben. Hinter den letzten Häusern des Geyersbergs war Tannenwald. Der wurde komplett abgeholzt, auch weil Brennmaterial gebraucht wurde.
Angst war in diesen Tagen ein ständiger Begleiter. In dieser Zeit wurde auch Häftlinge aus Waldheim entlassen. Das war nicht nur politische Häftlinge, sondern auch Kriminelle. Wir haben deshalb alle Türen fest verschlossen.
Als die Russen dann in Döbeln waren, marschierten sie auch den Geyersberg hoch und hatten zu unserer Verwunderung Viehherden dabei. Wahrscheinlich war das ihr lebender Proviant. In Erinnerung ist mir vor allem ein Stier geblieben, der am Geyersberg nicht mehr konnte und sich auf den Fußweg legte. Mein Vater hat es dann mit Herrn Schulenburg, der etwas über uns wohnte, geschafft, den Stier nach Greußnig ins Stadtgut zu bringen. Am nächsten Tag allerdings kamen die Russen und suchten das Tier. Kinder verrieten ihnen, dass mein Vater und Herr Schulenburg den Stier zum Stadtgut gebracht hatten. Dort haben sie ihn sich wieder geholt.
Auch in der Stadt änderte sich viel. Es war ein warmer Mai. Ich weiß noch, dass ich ein kurzes Kleid anhatte und einen Anhänger aus Elfenbein trug. Als ich am ersten Tag nach dem Einmarsch der Russen wieder zu meiner Arbeit in der Stadtsparkasse ging, hatte man hier schon Betten aufgestellt. Im Rathaus waren schon die Russen drin und wir sollten unsere Akten rausnehmen. Die Schreibmaschine sollte allerdings dableiben. Da wir die aber brauchten, forderte ich meine Kolleginnen auf, mir die Schreibmaschine zu geben und Akten darauf abzulegen. So habe ich sie aus dem Rathaus herausgetragen und in unser Ausweichquartier gebracht. Das war im Gebäude der Arbeitsfront, das später Bibliothek war und nach dem Kriegsende, das Rathaus wurde ja sowjetische Stadtkommandantur, auch die Stadtverwaltung aufnahm. Nach und nach haben wir alles hierhergebracht und im Parterre eröffneten wir dann die Sparkasse. Da es in der unmittelbaren Nachkriegszeit allerdings keine Bankgeschäfte mehr gab, alles war ja zum Erliegen gekommen, wurde ich in die Stadtverwaltung versetzt. Ich habe in der Gewerbe-, Schul- und Polizeiabteilung bei Herrn Näcke gearbeitet. Ich habe noch einen Führerschein, den Herbert Näcke persönlich unterschrieben hat. Ich machte 1946 den Führerschein auf dem Holzvergaser. Das war schwierig, mitten auf der Kreuzung zur Franz-Mehring-Straße blieb das Ding bei meiner Prüfung stehen.
Unsere Angst, dass die Russen Menschen umbringen und Frauen vergewaltigen, war nicht begründet. Es hat sicher Einzelfälle gegeben, aber ich habe in dieser Hinsicht nichts mitbekommen. In unserer Nachbarschaft wohnte eine Frau, die Russisch sprach. Wenn irgendwo was war, wurde die gerufen und die hat selbstbewusst in Russisch ihre Meinung vertreten, was meist ausreichte, um das Problem zu lösen. Wir Mitarbeiter der Stadtverwaltung mussten anfangs alle zehn Tage eine Meldung zur Kommandantur bringen. Dem russischen Wirtschaftsoffizier Akopjan gegenüber äußerte ich, dass ich immer noch Angst hätte, wenn ich russischen Soldaten begegne oder in ihrer Nähe arbeite. Der forderte mich auf, ich möge Tinte, Farbe oder Pfeffer nehmen, und jene Person markieren, die mir zu nahe käme. Die würden dann streng bestraft. Es gab übrigens auch Frauen, die sich freiwillig mit russischen Offizieren eingelassen haben.
Stadtrat Röher, der Stadtkämmerer, wurde nach dem Krieg von den Russen einkassiert. Der ist nach Mühlberg gekommen, ist aber von dort wiedergekommen. Auch mein Vater wurde durch einen Polizisten im August 1946 zu einem „kurzen Verhör“ geholt. Das „kurze Verhör“ hat bis zum 31. Januar 1950 gedauert. Mein Vater war auch in Mühlberg und wir wussten davon nichts. Als der Stadtrat Röher entlassen wurde, hat er seine Tochter zu uns geschickt und hat uns ausrichten lassen, dass unser Vater noch lebt. Der käme jetzt nach Buchenwald, weil Mühlberg geschlossen wurde. Von hier aus ist er entlassen wurden. Trotz der Verhaftung ist er im Osten, in der DDR geblieben und hat dann in der Konsumbäckerei als Lagerleiter gearbeitet. Er war gelernter Bäcker und konnte den Beruf aber nicht mehr ausüben, weil er im Ersten Weltkrieg eine Gasvergiftung erlitten hatte. Als Langzeitfolge bekam er jedes Jahr im Herbst eine Schleimhautentzündung des Magens bzw. Magengeschwüre. Als er 1946 abgeholt wurde, lag er gerade krank im Bett. Mein Einwand, dass mein Vater krank wäre und deshalb nicht verhaftet werden könne, zeigte keine Wirkung. Der Polizist sagte, er könne es nicht ändern. Der Vater müsste mit. Wir haben, weil wir keinen direkten Kontakt aufnehmen konnten, eine Annonce geschaltet, in der sein Name und sein Geburtsdatum drinstand und die Information, dass es uns gut geht. Ein Mithäftling hat unseren Vater in Buchenwald darauf aufmerksam gemacht. Wir waren Herrn Röher gegenüber sehr dankbar, weil wir durch ihn überhaupt erstmal wussten, dass unser Vater noch lebt. Als er in Buchenwald entlassen wurde und wieder nach Hause kam, war ich gerade auf Arbeit. Mein Bruder war noch klein, er ist dreizehn Jahre jünger als ich. Der kam zu meiner Mutter und sagte „Mutti, hier ist ein Mann.“ Er hat seinen Vater nicht wiedererkannt.
Die Vorgeschichte war, dass mein Vater in einem Ostarbeiterlager auf der Mastener Straße gearbeitet hatte, weil er als Spritzlackierer bei Großfuß wegen seiner Magenprobleme nicht mehr arbeiten konnte. Er wurde ins Ostarbeiterlager geschickt und hat dann das Lager geleitet. 1945 musste er auf Weisung der Polizei im Lager sein. Die Russen haben ihn an die Wand gestellt und die Insassen befragt. Sie haben gut über meinen Vater gesprochen. Leider hat sich mein Vater das nicht schriftlich geben lassen. Das Lager wurde schnell aufgelöst. Die Männer sollten nach Hainichen zur Armee und die Frauen nach Hause kommen. Mein Vater war von irgendjemand nochmal wegen seiner Tätigkeit im Ostarbeiterlager denunziert worden. Wir haben es nicht herausbekommen, wer es war.
Ich bin zur Gemeinpolizei NKWD gegangen, die saßen im Amtsgericht. Dort habe ich die Geschichte meines Vaters erzählt. Der Offizier hat sich das angehört und hat mich aufgefordert, alles aufzuschreiben. Das habe ich gemacht. Als ich das Schriftstück abgeben wollte, empfing mich ein einfacher Landser und ging mit mir schräg rüber in eine Villa, in der sich die Offiziere einquartiert hatten. Er führte mich in die 1. Etage. Da wurde mir es ein bisschen mulmig. Ich dachte, was das jetzt werden soll, denn der Offizier im Amtsgericht war mir als exakt in Erinnerung und hat ganz vernünftig mit mir gesprochen und hat zu mir gesagt: „Wenn ihr Vater nichts ausgefressen hat, kommt er auch wieder.“ Ich wurde ins Wohnzimmer und dann ins Schlafzimmer geführt. Erst jetzt sah ich, dass der Offizier krank im Bett lag. So habe ich ihn das Schreiben überreicht und mir fiel ein Stein vom Herzen, dass sich meine Befürchtungen als falsch herausstellten. Jeder musste sich damals selbst um seine Belange kümmern, sonst war man auf verlorenem Posten.
Von August 1946 bis Ende Januar 1950 war mein Vater eingesperrt - 3,5 Jahre. Als er wiederkam, hat er keinen Ton erzählt. Wir mussten ihn ein halbes Jahr erstmal wieder aufpäppeln. Er ist auch nicht alt geworden, nur etwas über 60 Jahre und wirkte manchmal wie ein gebrochener Mann. Bei allem darf man aber nicht vergessen, dass wir den Krieg angefangen haben. Ich bin in meinem Leben viel gereist und habe mich manchmal geschämt, dass ich Deutsche bin, in Norwegen und auch in der Sowjetunion. Der Goebbels-Satz „Wollt ihr den totalen Krieg“, zu dem die Massen damals „Ja!“ schrien, hat sich bei mir festgesetzt.
1945 sind teilweise komische Gestalten in Döbeln aufgetaucht. Wir hatten im Rathaus einen Herr Kirchhoff. Der sollte im KZ eingesessen haben. Er war Wirtschaftsbeauftragter. Ich war bei ihm Sekretärin. Das war in dem Gebäude in der Franz-Mehring-Straße ganz oben. Letztendlich wurde bekannt, dass man ihn wegen Bigamie suchte. Er war Kapo in einem KZ gewesen. Herr Dietrich von der SPD war der zweiter Bürgermeister, der konnte noch frei sprechen. Erster Bürgermeister war Herr Arno Dietze. Er war Kommunist. Sein Bruder Erich wurde als Kämmerer eingesetzt, er übernahm das Amt von Stadtrat Röher. Als alle schon geflüchtet waren, hatte Kämmerer Röher im Rathaus auf die Russen gewartet. Er war ein exakter Mensch mit Prinzipien. Abhauen wäre nicht seine Art gewesen. Wahrscheinlich hat er auch gedacht, dass er ja nur die Finanzen gemacht hat, und dafür, glaubte er, könne er gradestehen.
Der Übergang von russischer hin zu deutscher Verwaltung war fließend. 1951 hatte man mich zum Rat des Kreises versetzt. Da arbeitete ich gegenüber von der Lessing-Schule. Hier habe ich die Städte angeleitet, war für Leisnig, Waldheim, Hartha, Roßwein und Hainichen zuständig. Von 1956 bis 1958 war ich auch Bürgermeisterin in Gadewitz. Beim Rat des Kreises musste ich 1953 beim Tod von Stalin mit einer Knarre in der Hand Wache stehen.
Mein Berufsleben war wechselvoll. Mich hat dann Herr Buddruss zur Jugendmode geholt. Ich habe mich mit 36 nochmal auf die Schulbank gesetzt und ein Fachschulstudium der Ökonomie in Plauen absolviert. Ein paar Jahre habe ich in der Jugendmode in Roßwein als Arbeitsökonomin gearbeitet. Dort wurden schöne Sachen hergestellt, die größtenteils an den westdeutschen Versandhandel „Quelle“ geliefert wurden. Die Jugendmode war in Roßwein an der Straße, die nach Gleisberg führt. Von ihr ist nichts mehr erhalten. Das Armaturenwerk war rechts und links war die Jugendmode. Wir fingen in Roßwein schon früh um 6 an. Von der Jugendmode hat mich Herr Leibscher zu Decenta geholt. Auch hier war ich Arbeitsökonomin und dann ging der Planungsleiter Herr Riemer in Rente. Herr Buddruss von der Jugendmode rief mich immer noch an, wollte mich zur Jugendmode zurückholen und bot mir an, dass ich verkürzt arbeiten könnte. Ich erklärte ihm, dass das nicht geht. Man kann nicht von den Frauen in der Produktion verlangen, dass sie voll arbeiten und selbst nur Teilzeit gehen. Ich habe dann bis zur Rente 1985 bei Decenta bzw. Florena gearbeitet. Der damalige Chef, Heiner Hellfritzsch, frage mich, ob ich nicht noch bleiben will, weil ich noch fit sei. Das habe ich nicht gemacht, weil ich in dieser Zeit zehn Jahre lang meine Mutter gepflegt habe. Ich habe sie so weit gebracht, dass sie wieder laufen konnte. Das war für mich ein großer Erfolg.