Türmer
Türmer auf St. Nicolai - ein "einmaliger" Beruf in Döbelns Stadgeschichte
Seit grauer Vorzeit bis in unsere Tage scheuen Menschen keine Mühe, um hochragende Türme oder Bauwerke zu erklimmen. Sie tun dies zur Erkundung des Umfeldes und zur Ausdehnung des optischen Horizontes. Waren es früher stolze Burgtürme, von denen der anrückende Feind rechtzeitig erspäht wurde, oder prächtige Kirchtürme, von deren Höhe drohende Feuergefahr ausgemacht wurde, dienen solche „Höhepunkte„ heute oft nur noch zur Befriedigung touristischer Neugier. Aber auch im 21. Jahrhundert, wo wir unsere wachenden Augen auf einer Umlaufbahn um Mutter Erde stationiert haben, nutzt man hohe Bauten für Warnzwecke. Denken wir nur an Feuerwachtürme in großen Waldgebieten oder an die guten alten Leuchttürme, die den Seeleuten den rechten Weg weisen!
Den wichtigen Türmerdienst der Vergangenheit durften nur ehrbare und zuverlässige Bürger ausüben. Diese wurden vom Volk geehrt, konnte sich doch der Städter in guter Obhut seiner Nachtruhe hingeben. Selbst Meister Goethe widmete dem Beruf des Türmers Zeilen. Im 5. Akt von Faust II preist der Türmer Lynceus sein Amt im Reiche der Dohlen und Turmfalken mit seinem Lied:
„Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt.
Ich blick' in die Ferne, ich seh' in der Näh,
Den Mond und die Sterne, den Wald und das Reh.
So seh ich in allen die ewige Zier,
Und wie mir's gefallen, gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn,
es sei - wie es wolle, es war doch so schön."
Mit der Erwähnung des Kaiserlichen Kastells auf dem Schlossberg zu Doblin am 21. Juli des Jahres 981 wurde bekanntlich das "Geburtsdatum" von Döbeln festgelegt. Bilder über das Aussehen der Burg sind verloren gegangen, aber sie dürfte wie jede Burg einen Turm, einen Bergfried, besessen haben. Ebenso sicher ist, dass unterhalb des Schlossberges eine kleine hölzerne Kirche stand, die dem Heiligen Nikolaus geweiht war. Dieser erste Vorgänger unserer heutigen Stadtkirche St. Nicolai hat in den vergangenen Jahrhunderten immer Freuden und Leiden der Stadt geteilt. Und Leidenszeiten gab es in der Stadthistorie gar viele: Kriege und Stadtbrände!
Der Vorgängerbau von St. Nicolai wurde 1368 fertig. Nach den Hussitenkriegen um 1430 war die Kirche 1479 abrissreif. Als Neubau entstand eine dreischiffige gotische Hallenkirche im Jahre 1485. Der große Stadtbrand von 1523 verschonte St. Nicolai, zerstörte aber das kriegsgeschundene Schloss nun völlig. Zwar war der verheerende Stadtbrand von 1730 wieder mit der Kirche gnädig, aber der Turm nahm Schaden und musste bis zur Höhe des heutigen Turmumganges abgetragen werden. Es wurde dann in 30 Meter Höhe auf den quadratischen gotischen Unterbau der heutige achteckige Oberbau aufgesetzt. Mächtig in seiner imposanten Gesamthöhe von 68 Metern, aber nicht mehr so filigran gestaltet wie das frühere gotische Oberteil!
Obwohl einst Wohl und Wehe der Stadt und ihrer Bürger besonders nachts von der Wachsamkeit des Türmers abhingen, sind die Namen dieser wackeren Männer nur aus der jüngeren Vergangenheit bekannt. Meist war man wohl Türmer im Nebenberuf. So berichtet die Stadtchronik von einem Stadtpfeifer als Türmer, der 1783 auf dem Turm vom Blitz erschlagen wurde! Ab 1839 wird ein Tuchmacher namens Gottlieb Fiedler erwähnt, aber nähere Angaben zu Döbelner Türmern sind uns erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. Deshalb sollen in diesem Beitrag nur die beiden letzten Türmer auf St. Nicolai hervorgehoben werden!
Am 18. April 1901 bezog der Schuhmachermeister Max Pause mit seiner Familie die Türmerwohnung. Neuerungen in der Dienstordnung hatte es schon bei Vorgängern von Herrn Pause gegeben. So galt für ihn die Feuerordnung von 1875: Ausbrechendes Feuer ist je nach Himmelsrichtung durch unterschiedliche Glockensignale zu melden. Bei Nacht musste vom Turm eine rote Laterne und tags eine rote Fahne in Richtung des Brandes geschwenkt werden. Knapp zehn Jahre vorher hatte der Turm eine Blitzschutzanlage erhalten, so dass dann bei Gewitter keine Gefahr mehr für Turm und Türmer bestand. So strahlte der Turm bei einem schweren Gewitter im Juni 1891 im hellen Lichte eines Elmsfeuers. Eine große Erleichterung für den Türmerdienst war 1893 die Installation einer Fernsprechanlage vom Turm zur des Kommandanten der Feuerwehr. Jahre zuvor musste der Türmer nach Abgabe seiner akustischen und optischen Signale vom Turm. Diesen eilenden Fußes - bei den Treppen eine kreuzgefährliche Sache - hinabsteigen und den Stadtbauverwalter persönlich informieren! Besonders schaurig klangen die Hornsignale des Türmers in der letzten Julinacht des Jahres 1897, als Türmer Liebig mit dem Nebelhorn das herannahende Jahrhunderthochwasser meldete und Döbeln in tiefster Finsternis lag!
Ab Januar 1902 fielen die viertelstündlichen Hornsignale vom Turm weg. Auf dem Turmumgang wurde eine Stechuhr mit vier Stechkästen angebracht. Die Stechkarte musste jeden Tag zur Kontrolle auf der Polizeiwache vorgelegt werden! Vor dieser Neuerung musste von 22 Uhr bis 4 Uhr viertelstündlich in alle vier Himmelsrichtungen das Horn geblasen werden. Blieben die Töne aus, wurden die Bürger in ihren Betten unruhig! Man bedenke, nach solch stressigem Nachtdienst mussten auch noch die Glocken geläutet werden – auch zu Beerdigungen und vielen Kindtaufen. Schließlich waren auch noch die Verrichtungen zum Lebensunterhalt zu erledigen, denn Hauslieferanten und Servicedienste gab es für einen Türmer nicht. Und undankbar waren die behüteten Bürger schon früher. So wurde 1908 Beschwerde über den übermäßigen Lärm der Nebelhörner bei Feueralarm geführt.
Als Türmer Max Pause Ende 1921 einen Schlaganfall erleidet, wird der Posten auf St. Nicolai eingezogen. Im Jahre 1923 verstirbt der Mann, der zwanzig Jahre sorgsam über den Schlaf der Döbelner Bürger wachte. Schon im Jahre 1926 gehen die Lichter in der Türmerwohnung wieder an. Im Oktober tritt Schuhmachermeister Bruno Große seinen Türmerdienst samt seiner kinderreichen Familie an. Er blieb dort oben fast drei Jahrzehnte und sollte der letzte Türmer von Döbeln sein. Genau genommen folgte ihm noch der Friedhofsarbeiter Siegfried Curwy, dessen Frau bis Dezember 1959 die Glocken läuten ließ, aber da wurde die Türmerwohnung schon mehr als "hochgelegene" Dienstwohnung der Kirche genutzt!
1 - Bälgeboden (Orgelempore), 2 - Ziehboden, 3 - Glockenstuhl, 4 - Turmumgang, 5 - Türmerwohnung, zwei Fenster der Wohnstube an der Westseite des Turmes, 6 - Bodenkammer der Türmerwohnung, 7 - Turmhelm, bis hierhin sind es 185 Stufen, 8 - Turmlaterne, 9 - Turmkugel und Wetterfahne |
Der Einzug von Bruno Große auf dem Turm gibt uns Gelegenheit, die "Innereien" des Turmes und die Türmerwohnung selbst zu beschreiben. Rechts neben dem gotischen Stufenportal der Kirche ist die Eingangspforte zum Treppentürmchen. Es nimmt eine gewendelte Steintreppe auf, über die man zum ersten Turmobergeschoss, dem Bälgeboden gelangt.
Dort lag früher hinter einem Lattenverschlag der große Lederbalg der Orgel. Ein Bälgetreter (Kalkant) trat einstmals über ein Trittbrett Luft in den Balg. Heute liefert ein elektrisches Gebläse dem Organisten Luft für die Orgelpfeifen. Eine Holztreppe und wieder eine Steintreppe innerhalb eines stollenartigen Ganges führt weiter nach oben, bis in ca. 20 Metern über dem Boden der Ziehboden erreicht wird. Über dem nach Westen zeigenden Turmfenster ist ein horizontaler Kragarm in der Turmwand verankert. Er trägt eine Seilrolle, über welche ein Tragseil zu einer Seilwinde im Turminneren geleitet wird. Die vertikal gelagerte Seilwinde wurde wie ein Gangspill auf den alten Windjammern über Handhölzer gedreht. Bei schweren Lasten wie Mobiliar, Heizmaterial und Wasser sowie bei der Entsorgung von Abfall aller Art musste die gesamte Türmerfamilie Hand anlegen!
(1) Fenster des Bälgebogens, (2) Seil-Göpel auf dem Ziehboden, (3) Die Taufglocke ist die Kleinste der vier Glocken.
Weiter geht es hinauf durch einen kleinen und einen großen gotischen Bruchsteinsaal. Die Treppen führen vorbei am Glockenboden, wo die vier Glocken in ihren Glockenstühlen hängen. In diesem Geschoss sind die Turmwände nach Norden, Westen und Süden durch große steinerne Vorhangfenster geöffnet, durch welche der Glockenklang herausschallt. Die ursprünglichen Glocken läuteten erstmalig nach der Turmerneuerung am 09. Juni 1781 und verstummten für immer am 08. Juli 1917. Der Erste Weltkrieg verschlang sie als metallenes "Kanonenfutter". Nur eine Glocke je Kirche verblieb in Döbeln.
Am 06. November 1921 wurden die neuen Glocken aus Gussstahl, gegossen in der Hofglockengießerei Franz Schilling und Söhne zu Apolda, geweiht. Sie tönen in C, Es, G und B. Die Glocken tragen neben Bibelsprüchen die Namen der Spender: die große Abendmahlglocke mit 75 Zentnern "Robert und Auguste Tümmler", die Predigtglocke mit 45 Zentnern "Oswald Greiner und Emil Stockmann", die Gebetsglocke mit 23 Zentnern "Georg und Alfred Richter" und die kleine Taufglocke mit 13 Zentnern trägt den Spruch: "Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden!".
Zu Zeiten von Meister Große und davor musste die ganze Türmerfamilie an die Glockenseile, wenn alle Glocken erklingen sollten. Heute wird diese schwere und schädigende Arbeit von Motoren und einer elektronischen Steuerung bewältigt. Nach dem Glockenboden erreicht man das Ende des quadratischen Unterturmes. Hier ist der Turmumlauf, und mit dem oktogonen Turmoberteil beginnt die Türmerwohnung. Bis zum Vorraum der Wohnung, der zum Schlossberg weist, haben wir 130 Treppenstufen erklommen. Hier kann in einfachen Behältnissen Wäsche gewaschen werden, auch die Türmerleute nahmen hier ihr Bad. Nach der Nordostseite führt eine Tür auf den Turmumgang hinaus.
In westliche Richtung gelangen wir in die „gute Stube". Sie misst dreieinhalb Meter Breite und ist ca. fünf Meter lang. Durch zwei Fenster bietet sich ein schöner Blick auf das Rathaus und die Stadt. Kleine Leute müssen sich dazu auf ein Fußbänkchen stellen, denn das Fensterbrett beginnt erst bei 1,15 Meter! Links neben diesem Wohnzimmer liegt das Schlafzimmer mit einem Fenster zum Lutherplatz und einer schrägen Wand durch das Oktogon. Spiegelbildlich zu diesem Raum liegt rechts neben der Stube das Reich der Türmerin. Durch das Küchenfenster konnte Frau Große zur Leipziger Straße schauen. Durch das jüngst bei der Kirchensanierung erneuerte Umganggeländer ist der Umgang jetzt sechzig Zentimeter breit - früher war er etwas breiter. Doch an den vier Eckflächen waren jeweils neun Quadratmeter Raum. Platz für Kästen und Töpfe mit Gartenerde zur Aufzucht von Küchenkräutern und Tomaten.
Die Türmerin konnte ihre Wäsche in windiger Höhe trocknen und auch den Türmerkindern boten sich kleine Plätze zum Spielen in Sonne und Luft. Über der Türmerwohnung befanden sich zwei große Bodenkammern. Eine diente Schuhmachermeister Große als Werkstatt und die andere wurde ob der großen Kinderschar als Schlafraum genutzt. Nach dem Wohnbereich folgt die welsche Turmhaube mit acht Fenstern und es schließt sich die Turmlaterne an, die von Turmkugel und Wetterfahne gekrönt wird. Bis auf die Höhe der Turmhaube führen 185 Treppenstufen!
Wenn wir heute vom Turm von St. Nicolai über Döbeln und sein Panorama schauen, dann sehen wir wohl nur die romantische Seite des Türmerdaseins. Die Stunden zu einem gemütlichen Tabakpfeifchen auf einer Bank auf dem Turmumgang waren für den Türmer eher selten. Die Arbeit für die Stadt, die Kirche und den Nebenerwerb bescherte vorrangig Mühe und Entbehrung! Trotzdem war es wohl ein erfülltes Leben. Davon zeugen auch letztlich die vielen Dienstjahre, die Schuhmachermeister Große mit seiner Familie auf dem Turm verbrachte – von 1926 bis zum 1. April 1953! Und es geschahen da droben auch Dinge, die Schrecken auslösten, aber mit Humor geklärt wurden. Familie Große benutzte im Bereich des Ziehbodens in einem Bretterverschlag eine Toilette, die als Vorläufer der heutigen Dixi-Toiletten genannt werden kann. Unter besagter „Brille„ befand sich ein Behälter für die „Hinterlassenschaften„. Diese mussten einmal im Monat samt Behälter auf luftigem Wege den Turm verlassen. Einmal versagte dabei der Seilzug der Winde. Als sich die anrüchige Last noch in zwanzig Metern Höhe befand, da riss das Seil. Bottich samt Inhalt schlugen auf dem Kirchenvorplatz auf und der unaussprechbare Inhalt spritzte bis zu den Häusern der kleinen Kirchgasse. Diese standen damals weitaus näher zur Kirche als heute. Besonders Bäckermeister Böhme gegenüber dem Kirchenportal zeterte anfangs sehr, fiel dann aber auch in das Gelächter der anderen ein!
Ende des Jahres standen Arbeiten zur Sanierung von Kirche und Turm an. Im Turm wurden die Treppen gangbar gemacht, der Turmumgang erhielt eine schützende Kupferblechabdeckung und ein stabiles Geländer. Auch die Türmerwohnung soll, entsprechend ausgestattet, zu einem touristischen Leckerbissen in Döbeln werden.
Gerhard Heruth
"Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V.
Mitgliederinformation Nr. 28
Mai 2005
Fotos: Gerhard Heruth