
Obermarkt

Geschichten und Gesichter einer lebendigen Stadtmitte
Zwischen Rathaus und St. Nicolaikirche liegt der Obermarkt, der zusammen mit dem Niedermarkt das Geschäftszentrum der Stadt bildet. Einst trug er Namen wie Hindenburgplatz und Roter Platz. Seine wechselvolle Geschichte ist spannend und verdient durchaus Aufmerksamkeit. Die Ursprünge Döbelns liegen im Osten der Muldeninsel. Unterhalb der Burg, später großspurig Schloss genannt, entstanden erste bescheidene Wohnquartiere um eine kleine Stadtkirche. Heute steht auf dem Schlossberg, dem einstigen Burgstandort, eine Förderschule. Die Kirche, mehrfach abgebrannt und umgebaut, überdauerte als St. Nicolaikirche. Von dieser Keimzelle wuchs Döbeln westwärts.
Der Obermarkt diente zunächst als Friedhof. Stadtchronist Carl Wilhelm Hingst schrieb 1872: „Der ganze freie Platz von der Kirche bis zum Rathause war in früher Zeit der Kirchhof St. Nicolai […].“ Bis 1474 begrub man hier die Toten. Doch die Pestjahre 1474/75 und die enorme Zahl von Toten zwangen die Stadt, einen neuen Friedhof vor dem Obertor anzulegen. Der St.-Nicolai-Friedhof, später Oberfriedhof genannt, entstand südlich der St.-Georgen-Straße und erstreckte sich entlang des Muldenufers bis zum Schlossbergwehr. Der alte Kirchhof wich der Wohnbebauung, die mit der wachsenden Bevölkerung nötig wurde.


Im 16. und 17. Jahrhundert nahm der Obermarkt seine heutige Struktur an. Noch nannte man den Obermarkt nicht Obermarkt, sondern sein westlicher Teil wurde als Mittelmarkt, sein östlicher Teil als Kornmarkt bezeichnet. Die Namen verraten die Nutzung: Donnerstags brachten Bauern Weizen, Gerste und Hafer auf den Kornmarkt – eine Lebensader für die Stadt. Wer Getreide hat, kann Brot backen. Auf dem Mittelmarkt, vor dem Rathaus, boten Händler Waren des täglichen Bedarfs an. Hier fanden auch öffentliche Hinrichtungen statt. 1701 wurde dafür ein Galgen errichtet. Solche Hinrichtungen, makaber, aber üblich, zogen Zuschauer an und kurbelten das Geschäft der umliegenden Läden an.
Ein Platz im Fokus der Gesellschaft
Mit der Zeit änderten sich die Sitten. Hinrichtungen verschwanden, Platzkonzerte sollten die Menschen anlocken. Immer wieder wurde und wird es auf dem Obermarkt auch politisch: Versammlungen, Proteste, Demonstrationen, Soldatenvereidigungen, Massenkundgebungen und Aufmärsche vor Ehrentribünen – die politischen Systeme wechselten, der Obermarkt als Ort des Geschehens blieb.
(1) Kundgebung der Döbelner Sportvereine (1920iger Jahre) - Im Hintergrund sieht man das 1905 errichtete Bismarck-Denkmal.
(2) Festumzug anlässlich der 1000-Jahr-Feier - Die Ehrentribüne im Hintergrund stand natürlich auf dem Obermarkt, der damals „Roter Platz“ hieß. Einige Bilder des Umzugs huldigten der Partei- und Staatsführung der DDR (Sammlung Ettrich)
Im 18. Jahrhundert nahm der Platz seine heutige Gestalt an. Die Marktgasse mit elf Gebäuden trennte Korn- und Mittelmarkt. Auch die Wasserversorgung wurde modernisiert. Auf dem Mittelmarkt stand ein Röhrwasserbrunnen mit einem Bottich, der 36 Fass Wasser fasste. Am 5. Dezember 1865 nahm die Stadt ein Druckwasserwerk mit eisernem Aufsatz in Betrieb, gespeist von einer neuen Wasserleitung. Um Fußgänger zu schützen, verlegte man vor den Geschäften Trottoirplatten. Doch nicht alles lief glatt: Eine Platte, die am Rathaus lehnte, erschlug ein elfjähriges Mädchen – ein tragischer Unfall, über den die Zeitung damals berichtete und der die Fortschritte der Zeit überschattete.


Südlich der Innenstadt wuchsen immer mehr Wohnhäuser. Um sie besser mit dem Obermarkt zu verbinden, errichtete man 1886 den Zwingersteg. Der Zugang zum Obermarkt führte durch einen schmalen Durchgang, ungefähr an der Stelle, wo die Straße des Friedens heute auf den Markt trifft. Im Rathaus erkannte man schnell, dass dieser Minizugang unpraktisch war, und handelte zügig, ohne jahrelange Planfeststellungsverfahren. Die Häuser Obermarkt 8 von Eisenwarenhändler Carl Rudolph und Obermarkt 9 von Wilhelm Kolbe (alte Katasternummern) werden 1890 abgerissen. Haus Nummer 8, einst im Besitz von Bürgermeister Carl Ludwig Schwabe, hatte prominente Gäste beherbergt: 1841 übernachtete hier Prinz Johann, der spätere König von Sachsen, der 1857 erneut Schwabes Gast war. König hin oder her – seit 1890 hat der Obermarkt eine südöstliche Straßenanbindung, die auch den Weg zur Eisenbahnhaltestelle an der Roßweiner Straße verkürzte. Eine Nachtlaterne, ebenfalls 1890 installiert, beleuchtete den Markt.

Erst Pferdebahn, dann Kraftomnibus
Für eine bessere Erreichbarkeit des Döbelner Zentrums sorgte auch die 1892 eröffnete Pferdebahn, die Gäste der Stadt vom Hauptbahnhof bis zum Obermarkt brachte. Bis zu 33 Fahrten pro Richtung wurden täglich durchgeführt. Doch im Dezember 1926 endete die Ära der Pferdebahn, eine der letzten in Deutschland. Von da an übernahm der Kraftomnibus den Transport.
Als Döbeln 1887 Garnisonsstadt wurde und der Bau einer Kaserne an der Bahnhofsstraße beschlossen war, verlor die alte Hauptwache auf dem Obermarkt ihre Funktion. Zuvor hatte sie als Wachlokal und Anlaufstelle für die dezentral untergebrachten Soldaten gedient, die in Sammelunterkünften oder Privatquartieren lebten. 1900 wurde die Hauptwache abgerissen. An ihrer Stelle plante man, beseelt vom Patriotismus der Reichsgründung, ein Bismarckdenkmal. Dafür mussten 1904 auch die vier alten Linden weichen, die die Hauptwache umstanden.
Am 5. Juli 1905 fand die feierliche Enthüllung des Denkmals auf dem Obermarkt statt. Es hatte 4000 Mark gekostet – damals eine beträchtliche Summe. Nach 1945 verschwand es, über seinen Verbleib ist nichts bekannt. Bismarck galt nicht mehr als „eiserner Kanzler“, sondern als Symbol des preußischen Militarismus, der für zwei Weltkriege mitverantwortlich gemacht wurde.
1950 errichtete die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) ein Denkmal für ermordete Antifaschisten und Widerstandskämpfer. Es stand 24 Jahre auf dem Obermarkt, bevor es auf den Wettinplatz neben das russische Ehrenmal verlegt wurde. An seiner Stelle baute die Handelsorganisation (HO) einen massiven Schnellimbiss mit Freisitzfläche. Heute noch weihevolles Gedenken, morgen Bockwurst und Bierchen – so rasche Wandlungen eines Ortes sind nichts für schwache Nerven. Im Juli 1997 wurde der Imbiss abgerissen und die Freifläche zum Biergarten für den nahen Ratskeller und das Hotel „Bavaria“ umgestaltet.
(1) Fotografie der alten Hauptwache auf dem Obermarkt aus dem Jahr 1887 - Die Hauptwache fungierte als Wachlokal und Anlaufstelle für die in der ganzen Stadt untergebrachten Soldaten und Offiziere. Als im April 1893 das Wachlokal am Eingang der Kaserne fertiggestellt, quartierte man in der Hauptwache auf dem Obermarkt die städtische Polizei ein.
(2) Das Bismarckdenkmal wurde am 05. Juli 1905 feierlich auf dem Obermarkt enthüllt.
(3) An seiner Stelle errichtete die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ 1950 ein Denkmal für Opfer des Faschismus, das später an den heutigen Wettinplatz verbracht wurde (Sammlung Ettrich).
(4) Lehmanns Schnellimbiss war in den 1970er und 1980er Jahren in Döbeln eine feste Institution. Die Döbelner Bockwurst feierte hier Hochstände (Sammlung Ettrich).
(5) 2024 lädt der Biergarten des Hotels "Bavaria" seine Gäste zum Verweilen ein.
Um die Jahrhundertwende erlebte Döbeln einen industriellen Aufschwung. Die Steuereinnahmen sprudelten, die Stadt blühte auf. Ein neues, repräsentatives Rathaus musste her. 1908 kaufte die Stadt die Grundstücke Obermarkt 31 und 32 sowie die Häuser Stadthausstraße 10 und 11, um sie abzureißen. Das neue Rathaus, deutlich größer als das alte, wurde am 14. Oktober 1912 eingeweiht, zusammen mit dem Schlegel-Brunnen. 1912/13 erhielt der Obermarkt auch eine neue Pflasterung. Immer mehr entwickelte er sich zum repräsentativen Zentrum der Stadt.
(1) Das alte Rathaus Döbelns entstand in der bekannten Form 1730 nach einem Stadtbrand. 1731 konnte der Dachstuhl gehoben und das Rathaus wieder genutzt werden. Später bekam das Gebäude einen kleinen Turm aufgesetzt und erhielt eine Uhr samt Justiz- und Marktglocke. Es wurde 1910 mit weiteren vier Häusern abgerissen, um Baufreiheit für ein deutlich größeres Rathaus zu schaffen.
(2) Das neue Rathaus, in seiner winkligen Form dem Obermarkt angepasst, wurde am 14.10.1912 nach zwei Jahren Bauzeit im Beisein König Friedrich Augusts feierlich eingeweiht. Die Baukosten betrugen 1.059.365 Mark, für die damalige Zeit eine gewaltige Summe. Das neue Rathaus entwickelte sich schnell zum wichtigsten Postkartenmotiv Döbelns.
Ein Bummel über den Obermarkt
Lassen Sie uns einen Spaziergang über den Obermarkt machen und dabei durch die Zeiten reisen. Einige der 28 Häuser verdienen besondere Beachtung. Wenden wir uns gleich der Nummer 2 zu. In diesem Eckhaus zur Kreuzstraße befindet sich die Löwen-Apotheke, gegründet 1545. Seit 1818 können Kunden hier Salben, Tinkturen, Pflaster, Elixiere, Tabletten, Pulver und getrocknete Kräuter kaufen. Anfangs wechselten die Besitzer häufig, bis 1889 Carl Ludwig Lehning aus Büdingen/Hessen die Apotheke übernahm. Er ist der Urgroßvater der heutigen Inhaberin Dagmar Schmidt. So sieht Kontinuität aus.
(1) Löwenapotheke im Jahr 2024 (2) Um 1900 entstand das erste erhaltene Foto der Löwenapotheke am jetzigen Standort. Links im Bild noch die Rückfront des alten Rathauses. (3) Werbeanzeige der Löwenapotheke aus dem Jahr 1910 (4) Foto der Löwenapotheke vor 1928 (5) Aufnahme Beginn der 1990er Jahre (© Fotos 2/4/5 Stadtarchiv Döbeln)

Zwei Häuser weiter, in der Nummer 4, befand sich einst das Konzerthaus „Bärenschänke“. Eine einfache, aber erfolgreiche Idee zog die Döbelner in Scharen an: Live-Musik und gute Gastronomie. Besonders beliebt war die Damenkapelle. 1924 wurde aus der „Bärenschänke“ das „Café Astoria“, später in den 1930er Jahren das „Rathaus-Café“. Zu DDR-Zeiten eröffnete hier die „HO-Milchbar“. Bei Eis, Kaffee und Kuchen ließ es sich gut verweilen – vorausgesetzt, man ignorierte die Kalorien. Heute achten die Kunden in der Nummer 4 eher auf ihre Fitness. Bei Intersport Schmidt finden sie Sportbekleidung, Schuhe und Ausrüstung.
(1) Die "Bärenschänke" auf dem Obermarkt war viele Jahre Döbelns bekanntestes Konzerthaus.
(2) Aus der Schänke wurde das "Rathaus-Café". Die Livemusik blieb erhalten (Sammlung S. Ettrich).
(3) In den 1960er Jahren wurde der Name "Milchbar" eingeführt. - Angebotskarte aus den 1970er Jahren.
(4) Heute ist im Haus Obermarkt Nr. 4 ein Sportgeschäft zu finden.

In der Nummer 5 verkaufte die Familie Richter von 1823 bis 2013 über sechs Generationen Herrenbekleidung. Weil die Vorfahren Hutmachermeister waren, bürgerte sich der Name „Hut-Richter“ ein. Der Name blieb, auch als das Sortiment über Hüte hinausging. Heute beherbergt das Haus Karls Manufakturen-Markt. Seit 2024 gibt es nahe der Autobahnabfahrt Döbeln-Nord Karls Erlebnis-Dorf. Um die Döbelner darauf einzustimmen, eröffnete Inhaber Robert Dahl 2023 einen Karls-Laden in der Innenstadt. Hier dreht sich alles um die Erdbeere – und noch ein bisschen mehr.


In der Nummer 6 verkaufte Herbert Näcke vor und nach dem Krieg Elektrowaren. Doch interessanter als sein Sortiment ist der Mann selbst. Im Mai 1945, als die Rote Armee Döbeln angriff und die Nazis zum Widerstand aufriefen, fuhr Näcke mit seinem Motorrad den sowjetischen Soldaten entgegen. Er vermittelte die kampflose Übergabe der Stadt und bewahrte Döbeln vor der Zerstörung. Dank ihm blieb die Stadt unversehrt und wurde später als „goldene Stadt“ bekannt. Herbert Näcke, der Elektrohändler vom Obermarkt, rettete Döbeln unter Einsatz seines Lebens. Wir sollten uns seiner dankbar erinnern.
(1) Links gut zu erkennen - das Elektro-Haus Herbert Näcke.
(2) Heute findet man im Haus Obermarkt Nr. 6 eine Filiale von "Ernsting's family" und die Geschäfte "Kleeblatt-Moden" und "Family Schuh".

Künstliche Zähne und kunstvolle Worte
Das Nachbarhaus, Nummer 7, hatte wechselnde Mieter. 1893 betrieb hier ein Herr Krawatzki ein Atelier für künstliche Zähne. Kunden konnten zwischen Celluloid, Gold, Platin oder Kautschuk für ihre neuen Beißer wählen, und der Meister versprach schmerzfreie Operationen. Eine verheißungsvolle Aussicht.
Vielen Döbelnern ist das Haus allerdings eher aus einem anderen Grund vertraut. Hier florierte viele Jahrzehnte lang der Handel mit dem gedruckten Wort. Schon vor dem Krieg verkauften Fritz Zocher und Karl Krebs in Nummer 7 Bücher. In der DDR war die Volksbuchhandlung „Buch und Kunst“ hier 40 Jahre lang ansässig und organisierte auch den Schulbuchverkauf für die Stadt. Von 1991 bis 2013 führte die „Erich-Kästner-Buchhandlung“ diese Tradition fort. Mit ihrer Schließung endete die Ära der Buchläden auf dem Obermarkt. Heute kaufen die Döbelner ihre Bücher in der „Buch-Oase“ auf der Ritterstraße. In der Nummer 7 hat man sich inzwischen auf Schuhe spezialisiert.
(1) Derzeit verkauft das Fachgeschäft Jung im Haus Obermarkt 7 Schuhe.
(2) Die Döbelner Volksbuchhandlung und ihre langjährige Chefin Christa Lange waren im "Leseland DDR" eine feste Institution (Sammlung Ettrich).
(3) Carl Schmidt war der erste erfolgreiche Buchhändler Döbelns. Seine Nachfolger Fritz Zocher und Karl Krebs führten die Buchhandlung unter seinem Namen weiter. - Werbeanzeige Fritz Zochers aus dem Jahr 1900.
(4) Seine Ursprünge hatte die Buchhandlung Schmidts in der Ritterstraße. Seine Nachfolger ziehen von dort auf den Obermarkt ins Haus Nr. 7. - Werbeanzeige von Karl Krebs aus dem Jahr 1910


Im Haus Obermarkt Nr. 8, an der heutigen Straße des Friedens, verkaufte Carl Rudolph seit 1866 auf zwei Etagen Eisenwaren und Haushaltsgeräte. Nach seinem Tod heiratete seine Witwe 1875 Reinhard Seifert, der das Geschäft unter dem Namen Carl Rudolphs weiterführte. Wegen der Anbindung der damaligen Königsstraße an den Obermarkt wurde das alte Geschäftshaus 1890 abgerissen. Seifert nutzte die Gelegenheit und errichtete auf dem verkleinerten Grundstück ein fünfstöckiges Geschäftshaus, größer und repräsentativer als der Vorgängerbau. Es erstreckte sich vom Obermarkt bis zur Fronstraße und bot deutlich mehr Verkaufsfläche. Neben Werkzeug und Eisenwaren fanden Kunden hier Küchen- und Gartengeräte, Sattler- und Polsterbedarf, Dekorationsmaterial, Sport- und Angelgeräte, Gardinenzubehör, Sargbeschläge, Gartenmöbel sowie Glas-, Porzellan- und Spielwaren. Nach Seiferts Tod übernahm 1926 sein Sohn Karl das Geschäft, ab 1963 leitete dessen Tochter Ursula das Unternehmen. 1973 zwang der politische und wirtschaftliche Druck der DDR-Verstaatlichungskampagne die Eigentümerin zur Aufgabe. Bis zur Wiedervereinigung fristete der Laden in staatlicher Hand ein kümmerliches Dasein, der einstige Glanz war verschwunden. 1991 kaufte die WM Immobilien GmbH das Haus und sanierte es. Einige Jahre lang konnte man im Restaurant „Shanghai“ asiatisch essen, auch mit Stäbchen. Heute beherbergt das Gebäude unter anderem die Redaktion der „Döbelner Allgemeinen Zeitung“, einen Vodafone-Shop und das Bürgerbüro der CDU.
(1)/(2) Historische Ansichtskarten von der Einmündung der Königstraße in den Obermarkt. Das fünfstöckige Kaufhaus rechts prägt den Obermarkt.
(3) Formular einer Auftragsbestätigung mit Außen- und Innensichten des Kaufhauses, 1930er Jahre
(4) Während der NS-Zeit nannte man den Obermarkt Hindenburgplatz und die Königstraße wurde zur Hitlerstraße (Sammlung Ettrich).
(5) Das Eckhaus Obermarkt Nr. 8 beherbergt heute das Geschäft eines großen Mobilfunkanbieters und die Redaktion der "Döbelner Allgemeinen Zeitung".
Süße Traditionen, eiskalter Genuss und ein Unverpackt-Pionier
Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, steht das Clemen-Haus, das zur Straße des Friedens gehört. Hier eröffnete August Friedrich Clemen 1784 eine Kolonialwarenhandlung und begann bald mit der Schokoladenherstellung. Seine Nachfahren spezialisierten sich auf das „süße Geschäft“ und errichteten 1911 in der Reichensteinstraße eine große Schokoladenfabrik. In den 1920er Jahren trafen sich die Döbelner im Clemen-Haus in Gerhardts Wein- und Bayrischbierstube, später eröffnete eine Eisdiele. 1957 griff man diese Tradition auf und verband die HO-Eisdiele mit einer kleinen Eisproduktion. Sechs Frauen stellten pro Schicht 6000 Stück Stieleis in den Sorten Othello, Schoko und Vanille her. Das Eis schmeckte nicht wie das italienische, doch man war bescheiden und freute sich über das Angebot.
(1) Blick vom Rathaus auf den Giebel des Clemen-Hauses an der Einmündung der Königstraße (heute Straße des Friedens). Gut zu lesen: Clemen & Sohn - Kakao- und Schokoladenfabrik.
(2) Viele Jahre Jahre befand sich in dem Haus die "Colonialwaaren-, Cigaretten-, Spirituosen- und Wein-Handlung Clemen & Sohn". Aus der kleinen Schokoladenproduktion entwickelte sich später eine Schokoladenfabrik, die man in der Reichensteinstraße baute. - Werbeanzeige aus dem Jahr 1893
(3) Der Schriftzug "Clemen" hielt sich bis zum heutigen Tag an der Fassade des Hauses. Er erinnert an Zeiten, als Döbeln in Sachsen wichtiges Zentrum der Süßwarenindustrie war.
(4) In der DDR-Zeit war im Erdgeschoss des Hauses eine "HO - Eisdiele" untergebracht, die sich einiger Beliebtheit erfreute (Sammlung Ettrich).
(5) Im Clemen- Haus hat heute ein Arzt seine Praxis. Die süßen Zeiten sind vorbei.
Das Nachbarhaus Obermarkt Nr. 9 gehörte früher der Kaffee-Rösterei Rudolf Türpe. Später waren dort Lebensmittel und Feinkostwaren erhältlich. Die Ausstattung entsprach dem Stil alter Kaufmannsläden: hohe Regalwände, viele Schubkästen im unteren Bereich, eine große Waage und eine laut klingelnde Registrierkasse auf dem Tresen. Schüttbare Waren wurden je nach Wunschmenge in Papiertüten abgefüllt. Heute sind „Unverpackt-Läden“ in großstädtischen Szenevierteln angesagt – bei Rudolf Türpe gab es das schon längst. Derzeit praktiziert in dem Haus ein Urologe. Die Besucher betreten das Gebäude wohl weniger beschwingt als zu Zeiten der Kaffeerösterei – wer könnte es ihnen verdenken?

Im markanten Haus Obermarkt Nr. 10 mit der Giebelreklame handelte bis 2017 die Firma Wagner mit Sämereien, Pflanzen und Gartenartikeln. „Samen-Wagner“ existierte seit 1870 in Döbeln und wurde nach der Wende privatisiert. Nach dem Umzug vom Nieder- auf den Obermarkt verkauft hier das Elektrofachgeschäft EP Schmalfuss, statt Blumenzwiebeln Elektrogeräte.

In den Häusern Nr. 11 bis 13 wechselten die Ladenbesitzer häufig. Über lange Zeit bekannt war der Optiker Schröter im Haus Nr. 12. Heute befindet sich dort eine Filiale des Pommlitzer Bäckers Hüttig. Nach Haus Nr. 13 beginnt die Große Kirchgasse. Seit der Jahrtausendwende führt ein Durchgang zur Zwingerstraße, die sogenannte Rathauspassage.
(1) Optiker Schröter war mit seinem Geschäft viele Jahre im Haus Nr. 12 präsent (Sammlung Ettrich).
(2) Aktuell verkauft Bäcker Hüttig hier seine Brötchen.
Das Alte Amtshaus: Vom Gerichtssitz zum Handy-Doc
Das Eckhaus linksseitig, am Beginn der Ostseite des Obermarktes, trägt die Nummer 14. Es fällt durch die Aufschrift „Altes Amtshaus“ auf, die an seine frühere Funktion erinnert. Am 5. Dezember 1853 zog das Döbelner Gericht hier ein, als die Patrimonialgerichtsbarkeit auf den Staat überging. Das provisorische Königliche Gericht in Döbeln wurde in ein Königliches Gerichtsamt umgewandelt und Justiziar Fleck vom Königlichen Justizministerium mit Genehmigung des Königs zum Gerichtsamtmann ernannt. Der Mann des Königs sollte gut sichtbar im Zentrum Döbelns seines Amtes walten – es ging auch um Repräsentation und Machtdemonstration. Bis 1901 residierte das Gerichtsamt hier und war für 78 Ortschaften zuständig. Bald reichten die Räume nicht mehr aus, und die Königliche Staatsregierung beschloss einen Neubau. Das neue Gerichtsgebäude an der Staupitz- und Bismarckstraße (heute Rosa-Luxemburg-Straße) wurde am 15. Juli 1901 eröffnet.
Als das Gerichtsamt in sein neues Gebäude zog, wurde das Amtshaus am Obermarkt zum „Alten Amtshaus“. Ofensetzmeister Emil Kühne erwarb es als Firmensitz und richtete Schauräume ein. Statt um Recht und Gerechtigkeit drehte sich hier nun alles um die wohlige Wärme eines Kachelofens im Winter. Außerdem zog ein „Sächsisches Engros-Lager“ ein, das man heute wohl als Outlet-Center bezeichnen würde. Das geräumige Haus bot auch Platz für Leopold Heynemanns Kurz- und Spielwarengeschäft. Leopold und Frida Heynemann, jüdischer Herkunft, mussten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und Boykottaufrufen ihr Geschäft aufgeben. Sie flohen in die Anonymität Berlins. Leopold starb dort 1941, seine Frau wurde 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Im „Alten Amtshaus“ übernahm Johannes Wahrig das Geschäft und verkaufte Schuhe. Sein Schuhhaus „Metropol“ prägte den Obermarkt über viele Jahre.
Die 1000-Jahr-Feier 1981 erinnerte die Döbelner schmerzlich daran, dass mit der Schließung des Stadtmuseums 1952 ein wichtiger Erinnerungsort verloren gegangen war. Das sollte sich ändern: Im Jubiläumsjahr eröffnete im „Alten Amtshaus“ ein neues Stadtmuseum. Unter der Leitung von Peter Ertel und Monika Wünsch wurde es schnell ein Anziehungspunkt für Heimatfreunde, Schüler und Gäste. 1996 musste das Museum wegen Sanierungsarbeiten ausziehen. Nach dem Umbau zog das Modegeschäft Meyer ein, später auch Kleeblatt-Moden. Heute bietet das „Alte Amtshaus“ Dienstleistungen rund ums Handy an. Letzte Rettung: Handy-Doc. So ändern sich die Zeiten.
(1) Heute bildet das "Alte Amtshaus" einen würdigen Abschluß des Obermarktes im Osten.
(2) Nach dem Umzug des Gerichts in die Bismarckstraße kaufte Ofensetzmeister Emil Kühne das Haus und nutzte den Bekanntheitsgrad des Gebäudes für Werbezwecke.
(3) Im Erdgeschoss betrieb Leopold Heynemann sein Geschäft.
(4) Werbeanzeige für das Geschäft von Leopold Heynemann aus dem Jahr 1914
(5) Auf Heynemann als Geschäftsinhaber folgte Johannes Wahrig. Sein Schuhhaus "Metropol" war viele Jahre das bekannteste Fachgeschäft für Schuhe in Döbeln (Werbeanzeige aus dem Jahr 1938).
(6) Dieses Foto aus den 1950er Jahren machte man wegen eines Festumzugs. Für uns hier ist das Haus im Hintergrund von Interesse. Mit Kurt Kühne arbeitet bereits der Nachfolger Emil Kühnes im Geschäft. Auch Johannes Wahrig führte sein Schuhgeschaft im "Alten Amtshaus" nach dem Krieg weiter (Foto: © Stadtarchiv Döbeln).

Seit 2019 gibt es vor dem „Alten Amtshaus“ eine kleine Attraktion: Ein Bronzestadtmodell der Insellage im Maßstab 1:1650, gestiftet vom Lions Club Döbeln nach einer großen Spendenaktion. Eine Besonderheit des Modells sind die Erklärungen in Normalschrift und Brailleschrift für blinde Menschen.
Blumen, Bücher und Mode: Die Ostseite des Obermarktes
Die Ostseite des Obermarktes prägen die Häuser Nr. 14 bis 19. Danach beginnt die Sattelstraße. Besonders auffällig ist das große Haus Nr. 15, das eine lange Tradition als Hotel hat. Zunächst hieß es „Hotel Stadt Chemnitz“ und warb mit: „Altrenommiertes und bestgelegenes Hotel im Zentrum der Stadt, von Geschäftsreisenden bevorzugt, mäßige Preise, Zentralheizung, vorzügliche neue Betten, Bäder im Hause und Haltestelle der Pferdebahn“. Um 1850 wurde das Haus mit den vielen Vorzügen zum „Hotel Sächsischer Hof“, um 1900, im Zuge der Reichsgründung, zum „Hotel Reichshof“. In der DDR-Zeit beherbergte das Haus die Volkshochschule. Heute ist es ein Büro- und Ärztehaus, doch der Schriftzug „Alter Reichshof“ an der Fassade blieb erhalten.
(1) Ältestes Foto des Hauses - Das Hotel "Stadt Chemnitz" war in Döbeln eines der komfortabelsten Hotels (Sammlung Dettmer)
(2) Zwischenzeitlich lief das Hotel unter dem Namen Hotel "Sächsischer Hof". Neben den Kutschen sieht man auf der Postkarte auch die Döbelner Pferdebahn, die direkt vor dem Hotel eine Haltestelle hatte.
(3) Werbeanzeige Hotel "Sächsischer Hof" aus dem Jahr 1900
(4)/(5)/(6) Die historischen Postkarten zeigen das Hotel "Reichshof". Unter diesem Namen wird das Hotel lange geführt. Noch heute ziert der Name die Fassade.
(7) Werbeanzeige für das Hotel "Reichshof" aus dem Jahr 1910
(8) Aktuelle Aufnahme vom Haus Obermarkt Nr. 15 - Den Namen "Alter Reichshof" gab es in der Geschichte nie. Aber wir wollen ja nicht kleinlich sein.

Im Haus Nr. 18 befindet sich aktuell das Modehaus der Familie Faustmann, während in Nr. 19, wo einst Döbelner Leseratten Bücher ausleihen konnten, heute Angela Schraders „Blumenstübchen“ zu finden ist. Im Eckhaus zur Sattelstraße, es trägt die Nr. 1, betrieb Nicolas Sihombing einige Jahre seine „KAFFEEkostBAR“. Zuvor versuchte hier der Roßweiner Fahrradhändler Hoffmann sein Glück. Noch weiter zurück reicht die Geschichte von Albin Müller, dessen Name bis heute über dem Eingang steht. Er ließ das Haus in seiner heutigen Form errichten und führte dort jahrzehntelang ein Geschäft für Modewaren und Damenkonfektion. Auch Teppiche und Linoleum gehörten zu seinem Sortiment.
Das Nachbarhaus Obermarkt Nr. 20 war Döbelns erstes Kino. Am 15. Dezember 1907 knatterte hier zum ersten Mal ein Filmprojektor. Die Unternehmung lief unter dem Namen „Theater lebender Photographien“, denn das Wort Kino war noch unbekannt. Später entstanden mit dem „Central“ und dem „Capitol“ größere Lichtspielhäuser, und das Haus am Obermarkt kehrte zum Handel zurück. Viele Jahre verkaufte der freundliche Herr Hauswald hier Porzellan und Glaswaren. In der DDR eröffnete die HO „Zentral“, und in den 1980er Jahren wurde der Laden zu einem „Delikat“. Diese Geschäfte boten Lebensmittel für den „gehobenen Bedarf“ an. Die Preise waren gepfeffert, aber für DDR-Bürger ohne Westgeld boten die Läden oft die einzige Möglichkeit, im real existierenden Sozialismus Kostbarkeiten wie eine Dose Ananas oder Pfirsiche zu kaufen. Den passenden Kontrast zur hochpreisigen Delikatware bildet das aktuelle Sortiment des Discounters MÄC-Geiz, der derzeit hier eine Filiale betreibt. Es gilt der alte schottische Grundsatz: Gut soll es sein, aber es darf auch nicht viel kosten.
(1) DDR-Tristesse - zwei HO-Geschäfte in den Häusern 20 und 21. Der Putz bröckelt, die Grundfarbe ist grau - und das liegt nicht nur am s/w-Foto (Sammlung Ettrich).
(2) Die Fassaden sind nunmehr etwas farbenfreudiger. Der Schnäppchenmarkt "Mäc-Geiz" und eine "KAFFEEkostBAR" laden zum Besuch ein (Fotos 2024).
(3) Seit ca. 1890 betrieb Albin Müller ein Geschäft, in dem man -interessante Kombination- Damenkonfektion und Linoleum kaufen konnte. Seine Nachfahren finden sich noch im Adressbuch von 1939. In der DDR-Zeit war hier ein HO-Laden für Öfen, Herde und Haushaltswaren untergebracht.
(4) Jahrzehntelang hinter dem HO-Schild versteckt, kann nach der Sanierung des Hauses der Name Albin Müllers wieder zum Vorschein.

Das Haus Obermarkt Nr. 21 gehörte lange Bäckermeister Otto Schubert. Es ist eines von nur zwei Gebäuden, die die Nordseite des Obermarktes bilden. Weitere Häuser, wie das Eckhaus zur Sattelstraße, zählen zur Marktstraße, die den östlichen und westlichen Teil des Obermarktes verbindet.
Vom Kaffeeklatsch zum Bürohaus
Unser Rundgang endet an den vier Eckhäusern des zentralen Häuserblocks. Die Nr. 22, das nordöstliche Eckhaus zur Marktstraße, war einst das „Café Jänke“, später „Café Central“ und „Kaffee Ecke“. In der DDR diente es als Geschäftsstelle der Handelskette KONSUM. Nach der Wende verfiel das Gebäude und wurde 2014 abgerissen. 2015 errichtete die Anwaltskanzlei Kulitzscher & Ettelt hier ein modernes Bürohaus und zog mit ihrer Döbelner Niederlassung ein.
(1)/ (2) Historische Postkarten - Wenn es irgendwann Wiener Kaffeehaus-Flair in Döbeln gab, dann im Café Jänke, das später in "Café Central" umbenannt wurde.
(3) Werbeanzeige für das "Café Central" aus dem Jahr 1911, hier interessanterweise mit "Z" geschrieben.
(4) Aus dem "Café Central" wurde irgendwann die "Kaffee Ecke" mit angeschlossener Konditorei.
(5) In der DDR von der Handelskette KONSUM als Büro genutzt, verfiel das Haus zusehends.
(6) Nach dem Abriss 2014 entstand ein modernes Gebäude für die Anwaltskanzlei Kulitzscher & Ettelt.

Vorbei am ehemaligen Frisörhaus Besser, das derzeit leer steht, erreichen wir das südöstliche Eckhaus, die Nr. 24. Hier führte Karl Krebs viele Jahre die bekannteste Literatur-, Kunst-, Musikalien- und Papierhandlung der Region. Er trat die Nachfolge von Carl Gottlob Schmidt an, der 1843 in der Ritterstraße 15 das weithin bekannte Geschäft gegründet hatte. Schmidt, Sohn eines Waldheimer Bäckermeisters, war ein umtriebiger Geist: Er organisierte Bücherlesezirkel zur neuesten deutschen Romanliteratur, beschaffte ausländische Publikationen, richtete im Juli 1874 eine Lehrmittelausstellung aus, die Besucher aus Amerika und Russland anzog, gründete den Verband Sächsischer Buchhändler mit und arbeitete im Leipziger Börsenverein der deutschen Buchhändler. Als Verleger veröffentlichte er 1872 die „Chronik von Döbeln und Umgebung“ von Carl Wilhelm Hingst, ein grundlegendes Werk zur Stadtgeschichte. Schmidt, der auch viele Jahre als Döbelner Stadtverordneter tätig war, starb 1893. Das Geschäft führten zunächst Fritz Zocher und später Karl Krebs unter dem Namen Schmidts weiter. Nach einer Zwischenstation im Haus Obermarkt Nr. 7 konnte man lange Zeit in der Nr. 24 Bücher kaufen.
Irgendwann endete die Buchhändlertradition im Haus Nr. 24, doch die Künste blieben präsent. In der Döbelner „Kunststube“ mit ihren einladenden Schaufenstern fanden Käufer Kunstgewerbeartikel, darunter erzgebirgische Holzschnitzkunst. Zu DDR-Zeiten gab es diese oft nur für „gute“ Kunden als sogenannte „Bückdichware“, die unter dem Ladentisch lag. Die „Kunststube“ ist untrennbar mit Marianne Klopfenstein verbunden, die hier 49 Jahre arbeitete und das Geschäft 2016 im Alter von 75 Jahren schließen musste. Doch die Tradition lebte bald wieder auf: Seit 2017 verkauft „Holzkunst Kuhnert“ aus Rothenkirchen in der Nr. 24 erneut Pyramiden, Nussknacker und Räuchermännchen aus dem Erzgebirge.
(1)/(2) Historische Ansichtskarten, die jeweils unterschiedliche Ansichten des Gebäudes zeigen. Carl Schmidt hatte seine Buchhandlung in der Ritterstraße betrieben. Nach einem kleinen Intermezzo im Haus Obermarkt Nr. 7 zieht sein Nachfolger Karl Krebs ins Haus Nr. 24. Immer mit dabei - der werbewirksame Name "Carl Schmidts Buch- und Kunsthandlung".
(3) Werbeanzeige der Kunststube aus dem Jahr 1992
(4)/(5) Aktuelle Fotos des Geschäfts. Heute wird hier erzgebirgische Volkskunst verkauft.
Bankhaus und Exotik: Die spannende Geschichte der Nummer 27
Wir wenden uns nun der Südwestecke des Häuserviertels zu, dem Haus Nr. 27. Dort gab es einst Brot und Brötchen in der „Mohren“-Bäckerei. Um den Namen zu verstehen, braucht es diese kleine Geschichte:
(1) Auf dem Foto der „Mohrenbäckerei“ (um 1900) sind an der Fassade des Hauses die Abbildungen zweier "Mohren" zu sehen. Sie gaben der Bäckerei ihren Namen.
(2) Historische Ansichtskarte von der Gebäudesituation vor 1912.

1747 begab sich Johann Gottfried Clemen, der zweite Sohn des Döbelner Tuchmachermeisters Johann Gottlieb Clemen, auf Wanderschaft. Holländische Werber rekrutierten ihn, und er wurde Soldat der Republik der Vereinigten Niederlande. In der Armee stieg er schnell auf und erreichte den Rang eines Hauptmanns. 1750 nahm er an einer militärischen Strafaktion gegen die einheimische Bevölkerung in Surinam teil, einer Kolonie in Holländisch-Guayana. Dort traf er einen wohlhabenden deutschen Plantagenbesitzer, der ihn zum Aufseher seiner Ländereien machte. In dieser Rolle lernte Clemen die verwitwete Plantagenbesitzerin Anna Juliën kennen, die er 1763 heiratete. Aus dem mittellosen Tuchmachergesellen wurde ein reicher Plantagen- und Sklavenbesitzer.
26 Jahre nach seiner Abreise kehrte Clemen nach Döbeln zurück. Am 4. September 1771 stieg er, begleitet von zwei dunkelhäutigen Dienern, aus der Extrapost. Die Kleinstadt war fasziniert: Man nannte ihn bald den „Krösus von Döbeln“, seine exotischen Begleiter sorgten für Aufsehen. Nach seiner Abreise ließ sein Bruder zwei „Mohren“ an die Fassade seines Hauses malen – eine Erinnerung an Clemens außergewöhnliche Lebensgeschichte. Die Figuren blieben bis 1912 erhalten.
1911 kaufte die Geringswalder Bank drei Grundstücke am Obermarkt, darunter die bekannte Bäckerei. 1912 entstand dort ein prächtiges Gebäude, das zum neuen Rathaus passte. Seit 1913 wurden hier „größere Brötchen“ gebacken. Das repräsentative Bankhaus beherbergte zunächst die Döbelner Niederlassung der Geringswalder Bank, später die Dresdner Bank und die Staatsbank der DDR. Heute sind hier die Commerzbank und ein Notar ansässig.
(1) Nach dem Abriss von drei Häusern war Platz für ein großes, repräsentatives Geschäftshaus, das einen architektonischen Kontrapunkt zum neugebauten Rathaus setzte. Das im Reformstil der Zeit erbaute Gebäude beeindruckt durch seine dorischen Säulen und Balustraden sowie den figürlichen Schmuck des Portals.
(2) Werbeanzeige der Geringswalder Bank aus dem Jahr 1914
(3) Detailaufnahme Hauptportal
(4) Das Gebäude ist noch heute das repräsentativste Haus des Obermarktes - nach dem Rathaus natürlich.
Die Nummer 28, das Eckhaus zur Marktstraße gegenüber dem Rathaus, wirkte früher bescheidener. Walter Hoppe betrieb hier eine Wäschenäherei. Im Vergleich zur imposanten Nummer 27 erinnerte das Haus an das alte Döbeln vor der Industrialisierung.
Auf den beiden Postkarten ist das als Haus Obermarkt Nr. 28 gut zu sehen. Für die Fotografen der Postkarten war es eher Beiwerk.

Nach der Wende musste das baufällige Gebäude weichen. Man errichtete einen modernen „Zwilling“ der Nummer 27, der sich besser in die Häuserzeile einfügt. Lange Zeit war hier die Redaktion der „Döbelner Allgemeinen Zeitung“ untergebracht. Heute hat ein Bundestagsabgeordneter sein Bürgerbüro im Haus, und eine Physiotherapeutin hilft den Döbelnern, Verspannungen loszuwerden.
Dieser kleine Rundgang über den Obermarkt zeigt die wechselvolle Geschichte der – ohne Übertreibung – „guten Stube“ Döbelns. Es gibt viel zu erzählen. Wer jetzt eine Pause braucht, kann sich im Biergarten neben dem Haus Obermarkt 28 niederlassen. Der gehört zum Hotel „Bavaria“. Bei einem kühlen Bier lässt sich der Blick über den Obermarkt genießen. Unsere Postkarten und Fotos beweisen: So schön wie heute war er noch nie.
© Michael Höhme, "Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V. (04.04.2024)
Quellen:
Heruth, Gerhard: Döbeln und seine Einkaufsmeile. Mitgliederinformation "Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V. Nr. 48, Mai 2015. URL: http://www.doebeln-entdecken.de/doebeln/einkaufsmeile.php (25.03.2024)
Dettmer, Jürgen: Döbelns Apotheken. In: Döbelner Mosaik 2016. Beucha 2016. S. 148-166
Pressausschuss für das Heimatfest (Hg.): Aus der Heimat. Festschrift zum Heimatfest. Döbeln 20.-22. Juni 1914, S. 81ff.
Adressbücher Döbelns aus den Jahren 1884, 1888, 1891, 1893, 1896, 1898, 1900, 1908, 1914, 1925, 1939
Bildnachweis:
Alle Abbildungen ohne Vermerk stammen aus der „Sammlung Döbeln“ von Michael Höhme.
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