Kriegsende 1945

  • Menschen am Scheideweg
  • Schicksalsstunden einer Stadt
  • Zeitzeugen erinnern sich

Acht Döbelner Biographien im Schatten der „Stunde Null“

Fast könnte man zu der Einschätzung gelangen, dass das Kriegsende in Döbeln vergleichsweise unspektakulär verlief: kein Beschuss, keine Zerstörungen, bei der Befreiung der Stadt kam niemand ums Leben. Es glich eher einer geordneten Übergabe als einem letzten Endkampf. Dennoch waren diese Tage im April und Mai 1945 auch für Döbeln und die Döbelner eine Zeitenwende – eine „Stunde Null“, ein tiefer Einschnitt im Leben, bei dem es ein Davor und ein Danach gab.

Ich möchte acht Menschen vorstellen, für die Döbeln entweder seit ihrer Geburt Heimat war oder die in jenen denkwürdigen Tagen vor genau 80 Jahren hier Zuflucht fanden. An ihren Biografien wird, so hoffe ich, deutlich, wie schicksalhaft diese Zeit für viele Deutsche war. Für die einen bedeuteten die Wochen im Frühjahr 1945 den Anfang vom Ende, für andere die lang ersehnte Befreiung von einem abscheulichen Unterdrückungsregime und den Schlusspunkt eines blutigen Krieges von bis dahin unvorstellbarem Ausmaß.

August Maus (1915-1996) - U-Bootkommandant, Kriegsgefangener

August Maus wohnte eigentlich in Großbauchlitz, Leipziger Straße 92. Am 6. Mai 1945 befand er sich jedoch rund 15 Flugstunden von Döbeln entfernt – am anderen Ende der Welt. Seine Frau, die in Großbauchlitz auf ihn wartete, hatte er fast zwei Jahre nicht mehr gesehen.

Leipziger Straße 92
August Maus 1942

Der U-Bootkommandant war zu dieser Zeit im Kriegsgefangenenlager „Camp Papago Park“ in Arizona im Südwesten der Vereinigten Staaten interniert. 1942 wurde er Kommandant von U 185. Auf drei Feindfahrten im Mittel- und Südatlantik versenkte er neun Schiffe. Als ein anderes deutsches U-Boot von einem amerikanischen Bomber angegriffen wurde, gelang es ihm, das Flugzeug mit der Bordflak abzuschießen und 22 Matrosen von U 604 aus dem kalten Atlantik zu retten. Für diese Tat erhielt Maus das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.

Nur kurze Zeit später, am 24. August 1943, wurde sein eigenes Boot vor der Küste Brasiliens angegriffen. Drei Aufklärungsflugzeuge des US-Geleitflugzeugträgers USS Core waren schneller zur Stelle, als er abtauchen konnte. U 185 wurde schwer getroffen und sank – 43 Matrosen starben, 32 überlebten. Unter den Geretteten befand sich auch August Maus, der Kapitänleutnant aus Döbeln. Für ihn endete der Krieg im Jahr 1943.

Untergang von U 185 am 24. August 1943
Sammlung National Museum of the United States Navy, Quelle: U.S. Navy photo
80-G-77196, Public domain

(1) August Maus als Gefangener der US Navy an Bord von USS Core
Sammlung National Museum of the United States Navy, U.S. Navy photo, Quelle:
80-G-77199, Public domain
(2) Captain M.R. Greer verhört August Maus an Bord von USS Core
Sammlung National Museum of the United States Navy, U.S. Navy photo, Quelle: 80-G-77200, Public domain

Zweimal versuchte er, aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager zu entkommen, beide Male jedoch ohne Erfolg. Erst 1946 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Eine Rückkehr nach Döbeln, das nun in der sowjetischen Besatzungszone lag, lehnte er entschieden ab. Stattdessen begann Maus in Hamburg ein neues Leben und wurde dort ein erfolgreicher Geschäftsmann. Nach der Wende besuchte er erneut sein Haus in der Leipziger Straße 92 und erhielt es von der städtischen Wohnungsgesellschaft DWVG zurück. August Maus starb 1996 in Hamburg.

Alexanderstraße 4

Dr. Werner Gruner (1904-1995) - Ingenieur, Erfinder des MG 42, Professor in Dresden

Auch Dr. Werner Gruners Haus stand in Großbauchlitz, allerdings am anderen Ende des Ortsteils, in der Alexanderstraße 4. Am 6. Mai 1945, als die sowjetischen Truppen aus Richtung Zschepplitz in Döbeln einrückten, bog der endlose Tross von Armeefahrzeugen in die Grimmaische Straße ein – direkt vor Gruners Augen. Er wusste, dass sein Schicksal ungewiss war, und musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Metall- und Lackwarenfabrik Johannes Grossfuss, 1938 (Stadtarchiv Döbeln)

Gruner hatte 1923 am Döbelner Gymnasium sein Abitur abgelegt, anschließend in Dresden studiert und promoviert. Danach begann er seine berufliche Laufbahn als Serienfertigungsspezialist bei der Metall- und Lackwarenfabrik Johannes Grossfuss in Döbeln. Als die sowjetischen Soldaten am 6. Mai 1945 auf dem Weg zum Rathaus am markanten Rotunda-Bau der Firma vorbeizogen, ahnten sie vermutlich noch nicht, dass in diesem Werk das erfolgreichste Maschinengewehr der Wehrmacht entwickelt und hergestellt worden war.

Tausende sowjetische Soldaten kamen durch die Waffe, die als „Hitler-Säge„ berüchtigt war, ums Leben. Erfunden hatte sie Werner Gruner. Ihm war es als erstem Ingenieur gelungen, die Massenfertigung eines Gewehrs im Blechprägeverfahren zu ermöglichen. Das MG 42 bestand im Wesentlichen aus Stanz- und Umformteilen und konnte dadurch schnell, kostengünstig und in großen Stückzahlen produziert werden. Technisch brillant – und für die Wehrmacht von unschätzbarem Wert.

Maschinengewehr MG 42 (Urheber: Phanatic, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Dr. Werner Gruner als Rektor der TU Dresden (Universitätsarchiv der TU Dresden, Fotoarchiv)

Gruner war seit 1939 Mitglied der NSDAP, erhielt das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse sowie den Silbernen Dr.-Fritz-Todt-Preis. Als Produktionsleiter der Rüstungsfirma war er außerdem für mehr als 500 Zwangsarbeiter verantwortlich, darunter auch sowjetische Kriegsgefangene. Umso mehr musste er befürchten, dass seine Rolle erkannt und er ohne Prozess bestraft werden würde.

Doch es kam anders. Gemeinsam mit rund 2500 deutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren wurde er im Rahmen der „Aktion Ossawakim“ in die Sowjetunion gebracht – die Rote Armee war an seinem Fachwissen im Waffenbau interessiert. Schon 1946 lebte Gruner mit seiner Frau und den drei Kindern nicht mehr in der Alexanderstraße, sondern in Ischewsk, der Hauptstadt der Udmurtischen Autonomen Republik im Ural, 3600 Kilometer von Döbeln entfernt. Ein halbes Jahr herrschte dort Winter. Trotz der Härten war Gruner dankbar, dass er weiterleben durfte.
1952 erlaubte Moskau ihm die Rückkehr in die DDR. Fortan betonte er stets seine Loyalität zur Sowjetunion, die er als „modernstes Land der Welt“ bezeichnete. Er wurde Professor für Maschinenbau an der TU Dresden, war von 1958 bis 1961 Rektor der Universität und übernahm 1969 die Leitung des Instituts für Landmaschinentechnik sowie die Direktion der Sektion für Kraftfahrzeug-, Land- und Fördertechnik. Werner Gruner starb 1995 in Dresden.

Albert Wünsch (1908-1945) - Fleischermeister, Deserteur, Opfer einer Denunziation

Weniger Glück im Leben hatte Albert Wünsch. Der 37-jährige Fleischermeister aus der Grimmaischen Straße 44 in Kleinbauchlitz glaubte im April 1945 nicht mehr an den „Endsieg“. Der stämmige Unteroffizier wollte überleben – er wollte zurück zu seiner Frau Minna und zu seinen beiden Kindern.
„Die brauchen ihren Vater mehr als der Führer“, dachte er. Wünsch glaubte nicht mehr an ein Wunder, sondern an gesunden Menschenverstand – und verlängerte eigenmächtig seinen Heimaturlaub.

Rechts im Bild die Grimmaische Straße 44 mit dem Ladengeschäft, das zur Fleischerei gehörte. Im Haus links (Grimmaische Straße 46) arbeitet in einer Nebenstelle der Döbelner Polizei Willi Baatz.
Nicht weit entfernt, in der Grimmaischen Straße 24, wohnte die Familie Baatz.

Womit er nicht gerechnet hatte, war die Missgunst eines Nachbarn. Eigentlich waren die Familien Wünsch und Baatz miteinander befreundet. Doch Willi Baatz, Hauptwachtmeister der Döbelner Polizei mit Dienstsitz in der Grimmaischen Straße 46, ärgerte sich darüber, dass Wünsch zu Hause war, während seine eigenen Söhne noch im Felde standen. „So ungerecht darf es nicht zugehen“, dachte er und rief wiederholt beim Wehrbezirkskommando an, um nachzufragen, ob dieser Albert Wünsch tatsächlich Urlaub habe. Das waren keine Anrufe eines pflichtbewussten Beamten, sondern Denunziationen. Damit setzte Baatz eine Kette von Ereignissen in Gang, die er nicht mehr kontrollieren konnte – das Blut eines Freundes klebte an seinen Händen.

Grabstelle der Familie Wünsch auf den Niederfriedhof

Schnell stellte sich heraus, dass Wünsch keinen Urlaub hatte. Am 21. April 1945 wurde er um 14 Uhr in die Döbelner Kaserne gebracht. Eigentlich sollte er als Deserteur in eine Arrestanstalt überführt werden. Doch als das Fahrzeug den Kasernenhof verlassen wollte, traf es auf den Döbelner Kampfkommandanten Adler. Dieser ließ den Wagen anhalten und erklärte kurzerhand: „Das ist ein Döbelner, der bleibt hier. Den brauchen wir als abschreckendes Beispiel – der wird hier erschossen.“ Alles ging nun schnell: Standgericht, Todesurteil, Erschießung. Am 23. April 1945 wurde Albert Wünsch an den Schießständen in den Klostergärten hingerichtet und dort verscharrt.

Monate später ließ Minna Wünsch ihren Mann auf den Niederfriedhof umbetten, wo er seine letzte Ruhe fand.

Außenstelle des Kreiskrankenhauses Leisnig in Technitz

Willi Baatz (1884-1949) - Berufssoldat, Polizist, Denunziant, Strafgefangener

Was Polizeiwachtmeister Willi Baatz empfand, als er erfuhr, was seine Anrufe angerichtet hatten, ist nicht überliefert. Sollte er Genugtuung verspürt haben, währte sie nur kurz. Am 25. Juni 1947 wurde er vom Schwurgericht Freiberg „wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ zu zwei Jahren Zuchthaus und drei Jahren Ehrverlust verurteilt. Seine Strafe verbüßte er in den Zuchthäusern Zwickau und Hoheneck. Am 24. Dezember 1948 kam er frei, da ihm die Untersuchungshaft angerechnet wurde. Nur wenige Monate später, am 10. Juni 1949, starb er im Bezirkskrankenhaus Leisnig, Außenstelle Technitz, an Lungentuberkulose – vier Jahre nach Albert Wünsch.

Erhardt Tümmler (1889-1947) - Fabrikant, Wehrwirtschaftsführer, „Nazi- und Kriegsverbrecher", NKWD-Opfer

Erhardt Tümmlers Absturz war besonders tief – denn er fiel aus großer Höhe. In Döbeln galt er als ungekrönter „Industriekönig“. Als Inhaber und Geschäftsführer der Metallwarenfabrik Tümmler hatte er sich mit Möbelbeschlägen und als Zulieferer der Automobilindustrie einen Namen gemacht. Fast 2000 Mitarbeiter beschäftigte er. Er lebte in einer Villa, ließ neben der Fabrik ein privates Schwimmbad und einen Tennisplatz errichten, besaß Ferienhäuser in Tirol und im Erzgebirge und schenkte seiner Frau Margarete, einer Schauspielerin, eine Villa mit Elbblick und Parkgrundstück in Hamburg-Othmarschen. Ihre Hochzeitsreise 1926 führte mit einem Luxusdampfer nach Nord- und Südamerika.

Die Metallwarenfabrik Robert Tümmlers war ein kleiner Stadtteil für sich. Sie erstreckte sich zwischen Mulde und Schillerstraße vom Körnerplatz bis zur heutigen Straße des Friedens.

Tümmler war bestens vernetzt. 1931 nahm er etwa an einem Treffen von Reichskanzler Heinrich Brüning mit sächsischen Industriellen teil. Nach der Machtübernahme Hitlers lief es noch besser: Er stellte auf Rüstungsgüter um und wurde bald einer der größten Produzenten von Panzerfäusten. Auch kommunalpolitisch wusste er sich einzurichten – für NSDAP-Kreisleiter Rehfeld kaufte er ein Haus in den Klostergärten. Im Gegenzug erhielt er über 100 sowjetische Kriegsgefangene sowie 500 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Im November 1942 wurde Tümmler zu einem der ersten Wehrwirtschaftsführer Sachsens ernannt – ein Titel, dem er gerecht werden wollte, bis zuletzt.

Kameradentreffen der Firma Tümmler Weihnachten 1941 – mittig in der ersten Reihe der Inhaber des Unternehmens Erhardt Tümmler
4 Panzerfäuste 30 im Originaletui, ausgestellt im Militärmuseum Helsinki (Urheber: Balcer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Mitte April 1945 befahl General Schörner, die Produktionsanlagen der Firma Tümmler ins Sudetengebiet nach Teplitz zu verlagern. Die Döbelner Fabrik war eine der letzten im Reich, die noch in großem Maßstab Panzerfäuste mit Zündern herstellen konnte. Trotz chaotischer Verhältnisse gelang es Tümmler, Maschinen und Personal per Zug nach Teplitz zu bringen. Doch kaum war alles dort aufgebaut, ordnete man die „Lähmungsaktion“ an, da die Rote Armee bereits in Richtung Erzgebirge vorrückte. Tümmler schlug sich mit seiner Frau und der Familie seines Fahrers Falke zu Fuß nach Döbeln zurück – zwei Tage waren sie unterwegs.

Zurück in Döbeln wurde er verhaftet und nach Bautzen gebracht. Sein Schicksal schien besiegelt – er galt als gesuchter Nazi- und Kriegsverbrecher. Doch auf unerklärliche Weise wurde er irrtümlich entlassen.

Monatelang lebte er unbehelligt in Döbeln, ließ sich einen Bart wachsen und zog mit seiner Frau ins herrschaftliche Haus der Schwägerin in der heutigen Straße des Friedens 19, das heute als Musikschule genutzt wird. Dass seine Villa in der Schillerstraße zum Kindergarten geworden war und Schwimmbad wie Tennisplatz als Symbole „kapitalistischer Prunksucht“ zugeschüttet wurden, ärgerte ihn zwar. Doch auf die Rückgabe seiner Firma hoffte er noch – bis er beobachten musste, wie sämtliche Maschinen über die Thielestraße zum Güterbahnhof transportiert und als Reparationsgut in die Sowjetunion verladen wurden.

(1) Villa der Familie Tümmler in der heutigen Straße des Friedens 19 (2) Blick vom Grundstück Straße des Friedens 19 – Über die Thielestraße wurden die demontierten Maschinen der Tümmler-Werke direkt zum Güterbahnhof Ost gebracht.

Die Ernüchterung war groß. Vor kurzem noch von allen hofiert, wurde er nun gemieden. Seine Direktoren erklärten, sie seien lediglich Angestellte gewesen, sein einst treuer Diener Friedrich bezeichnete ihn als Ausbeuter und Herrenmenschen. Tümmler deutete seine Entlassung aus Bautzen dennoch als Freispruch der neuen Machthaber – eine fatale Fehleinschätzung. Er wurde erneut verhaftet, ins Döbelner Gefängnis gesteckt, wieder freigelassen. Seine Frau drängte auf Flucht in den Westen. Fahrer Falke besorgte einen alten Lastwagen, um die Tümmlers in die Nähe eines unbewachten Grenzabschnitts zu bringen. Genug Wertsachen waren vorhanden, um sich ein neues Leben aufzubauen.

Ausschnitt aus einer Gedenktafel für die Opfer des sowjetischen Lagers in Mühlberg

An einem nebligen Herbstabend begann die Fahrt. Doch an der Stelle, an der der Fußmarsch über die „grüne Grenze“ hätte starten sollen, traf Tümmler die folgenschwerste Entscheidung seines Lebens. „Falke, wir fahren nach Döbeln. Ich desertiere nicht. Ein Kapitän verlässt sein sinkendes Schiff nicht“, soll er gesagt haben. Seine Frau war entsetzt, flehte ihn weinend an, die „heldenhafte Pose“ aufzugeben – doch er blieb unerbittlich. Sie kehrten zurück nach Döbeln.

Wenige Tage später wurde Tümmler vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und ins NKWD-Lager Mühlberg an der Elbe gebracht. Seine Gesundheit verschlechterte sich rapide. Im Januar 1947 kam es zum Durchbruch eines Magengeschwürs. Mitgefangene trommelten an die Barackentür, forderten einen Arzt – doch der Wachposten blieb untätig. Am Morgen war Erhardt Tümmler an inneren Blutungen gestorben. Seine Leiche wurde irgendwo in der Nähe des Lagers vergraben – ohne Kreuz, ohne Stein, ohne Inschrift. Er wurde 58 Jahre alt.

Ehemaliger Standort Zwingerstraße 18 – Das Haus wurde abgerissen.

Hannelore Renner (1933-2001) - Gymnasiastin, Sanitätshelferin, Kriegsopfer, später Kanzlergattin

Im Mai 1945 war Hannelore Renner zwölf Jahre alt. Sie lebte mit ihrer Mutter in der Zwingerstraße 18 und besuchte seit Februar 1944 die Döbelner Oberschule – ihre Hauptbuchnummer dort lautete 6642. Ursprünglich stammte Hannelore aus Leipzig. Nach dem verheerenden Bombenangriff auf die Messestadt im Dezember 1943 hatte ihr Vater Wilhelm Renner, Wehrwirtschaftsführer und Leiter der Leipziger HASAG, einer der größten Rüstungsfabriken des Reichs, Frau und Tochter nach Döbeln geschickt, weil es dort sicherer war. Frau Renner wurde kriegsverpflichtet und arbeitete halbtags als ungelernte Hilfskraft in Akkordarbeit bei Großfuß. Hannelore half täglich nach Schulschluss in der Fabrikkantine: Sie schrubbte Tische und Stühle, räumte auf – ihr „Lohn“ bestand in einem warmen Kantinenessen.

Döbeln war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Schüler wurden herangezogen, um Flüchtlinge und Verwundete aus dem Osten mit Getränken zu versorgen und sie in bereitgestellte Notquartiere am Sternplatz zu bringen. Dabei wurden die Kinder mit Grausamkeiten konfrontiert, die sie nicht begreifen konnten: offene Flüchtlingszüge, in denen Mütter ihre erfrorenen Kinder im Arm hielten, verstümmelte Soldaten, mehr tot als lebendig. Hannelore hatte in Leipzig bereits Tote nach Bombenangriffen gesehen, doch was sie nun am Döbelner Bahnhof erlebte, überstieg ihre Vorstellungskraft.

Später sagte sie: „Das Wort Krieg ist für uns die konkrete Sache unserer Generation. Das waren Bombennächte, das war Tieffliegerbeschuss auf dem Schulweg, Liegen auf einer Brücke, wenn man nicht wusste, wohin, und die Garben schlugen um einen herum ein. Das war Hunger, das war die Flucht, das war das Elend der anderen, und es war eine Art von Ohnmacht gegenüber einer Gewalt, die man eigentlich nicht begreifen konnte, das waren Soldaten, die man aus dem Bekanntenkreis kannte, die dann als tot gemeldet wurden – das konnte man als Kind nicht begreifen.“ (1)

Hannelore Kohl als junge Frau (Quelle: Film "Hannelore Kohl - Die erste Frau", Copyright "Bild: NDR/Helmut R. Schulze")

Am 5. Mai 1945 machten sich Mutter und Tochter auf den Weg nach Westen. Sie fürchteten die anrückenden russischen Soldaten und wollten zu Verwandten des Vaters nach Rheinland-Pfalz. Doch irgendwo in der Nähe von Döbeln wurde die Zwölfjährige von sowjetischen Soldaten aufgegriffen und mehrfach vergewaltigt. Neben der seelischen Wunde trug sie eine schwere Wirbelverletzung davon, die sie ihr Leben lang quälte. Ein Freund der Familie berichtete später, Hannelore sei bei der Tat auf einen Stein geschleudert worden, der einen Wirbel gequetscht habe. Anschließend hätten die Soldaten sie „wie einen Zementsack“ aus einem Fenster geworfen. Dieses Verbrechen wurde für sie zum lebenslangen Trauma. Schon der Geruch von Männerschweiß, Knoblauch und Alkohol, so berichtete sie noch Jahrzehnte danach, konnte in ihr die Erinnerung wecken, manchmal reichte der Klang russischer Stimmen.

1948, bei einem Klassenfest in Ludwigshafen, lernte die 15-jährige Hannelore den 18-jährigen Helmut Kohl kennen. Zwölf Jahre später, am 27. Juni 1960, heiratete sie ihn. Als Kanzlergattin wurde sie von der Öffentlichkeit häufig verspottet – als „blondes Dummchen“, „Barbie aus der Pfalz“ oder „biedere Hausfrau mit Betonfrisur“. Während ihr Mann die Anfeindungen scheinbar ungerührt hinnahm, zog sie sich zunehmend ins Private zurück. Öffentliche Auftritte vermied sie, soweit es möglich war. Wenn sie sich dennoch zeigte – etwa beim Sommerurlaub am Wolfgangsee –, dann diszipliniert, mit zusammengebissenen Zähnen, wie sie es schon als Kind gelernt hatte.

Vor ihrem Tod am 5. Juli 2001 litt Hannelore Kohl viele Jahre an einer mysteriösen „Lichtallergie“. Sie verließ ihr Haus zuletzt nur noch nachts. Über ihre Kindheit im Krieg und die traumatischen Erlebnisse der Flucht sprach sie nicht gern. Sie wollte nie zurückkehren in jene Maitage 1945 – nicht einmal in Gedanken.

Bahnhofstraße 73

Ruth Glasberg (1924-2008) - jüdisches Opfer der NS-Rassenpolitik, Vollwaise, Exilantin, „displaced person“

Als der zwölfjährigen Hannelore Renner in Döbeln Schreckliches widerfuhr, lebte die 21-jährige Ruth Glasberg in Schweden. Sie wurde 1924 als eines von drei Kindern der jüdischen Familie Samuel und Sali Glasberg in Döbeln geboren und wuchs in der Bahnhofstraße 73 auf. Ihre Eltern betrieben in der Theaterstraße einen Rohprodukthandel, starben jedoch früh. Die Kinder Max, Karl und Ruth waren 1934 Vollwaisen geworden und von ihrem Onkel Dr. David Gutherz, dem Bruder der Mutter, adoptiert worden. Trotz dieses Verlusts verlief ihr Leben zunächst geordnet.

Max (*1920), Karl (*1922) und Ruth Glasberg (*1924) im Jahr 1926

Am 25. Mai 1938 änderte sich alles. Der damalige Rektor des Döbelner Gymnasiums, Gottfried Klemm, relegierte Ruth und ihren Bruder Max – mit der Begründung, Juden dürften keine deutsche Schule besuchen. Es war nicht die Umsetzung eines Reichsgesetzes, sondern die persönliche Initiative des SA-Obersturmbannführers Klemm, der nun stolz melden konnte, seine Schule sei „judenfrei“. Ruth, damals 14, folgte ihren Pflegeeltern nach Berlin. Diese hatten Döbeln kurz zuvor verlassen, weil das Klima von Denunziation und Hetze unerträglich geworden war. Nur selten besuchten die Kinder noch ihre Tante Marie Rothstein in Döbeln, zuletzt 1939.

Max, Ruth und Karl Glasberg in Döbeln (1939)

Auch in Berlin wurde die Lage bald lebensgefährlich. 1940 wurde Ruths Bruder Max im KZ Sachsenhausen von der SS ermordet. Kurz darauf entschieden die Pflegeeltern, Ruth im Rahmen der Hilfsaktion „Rettet die Kinder“ außer Landes zu bringen. Viele Staaten wollten zwar keine jüdischen Flüchtlinge aufnehmen, doch einige wenige Kinder als „moralisches Feigenblatt“ schon. So gelangte Ruth nach Schweden. Dort fühlte sie sich mit 15 Jahren entwurzelt und perspektivlos. Die ambitionierte Gymnasiastin musste sich für eine Ausbildung entscheiden: zur Wahl standen Haushälterin, Friseuse oder Näherin. In Briefen machte sie ihren Pflegeeltern Vorwürfe – ohne zu wissen, dass diese in Berlin bereits auf ihre Deportation nach Auschwitz warteten.

Als der Krieg endete, wollte Ruth nur eines: zurück nach Döbeln, in die Stadt ihrer Kindheit. Ein Brief ihrer Tante brachte bittere Gewissheit: Ihr zweiter Bruder Karl und ihr Pflegevater David Gutherz waren in Auschwitz ermordet worden, ihre Pflegemutter Helene hatte sich vor der Deportation das Leben genommen. Neben einer Tante war Ruth die einzige Überlebende der Großfamilie.

Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt Döbeln vom 08.03.1950

Im Mai 1945 lebte sie seit sechs Jahren in ärmlichen Verhältnissen in Schweden. „Wie ich hier ganz alleine lebe, ist ein schmerzhafter, quälender, langsamer Selbstmord“ (2), schrieb sie damals. Sie wusste nicht, dass ihre Rückkehr eine lange Odyssee werden würde.

1946 gelang ihr zwar die Ausreise – doch nur bis Prag. Dort wartete sie auf eine Einreisegenehmigung des „Döbelner Amts für Umsiedlung“. Doch die sowjetischen Behörden verweigerten sie: Ruth besaß keine deutsche Staatsbürgerschaft, sondern die polnische ihrer Eltern, galt damit als staatenlos, als „displaced person“. 1947 erkrankte sie in Prag lebensgefährlich an Diphtherie, ihre Aufenthaltsgenehmigung lief ab, ihr drohte die Abschiebung nach Polen – ein Land, das sie nie betreten hatte. In ihrer Verzweiflung reist sie illegal nach Deutschland ein, wird aufgegriffen und im Flüchtlingslager Regensburg interniert. In Frankfurt a.M. entscheidet man, sie nach Schweden abzuschieben. So geschieht es.

Erst als 1949 die Alliierten die Verwaltungshoheit an deutsche Behörden übergaben, öffnete sich für sie der Weg zurück. Am 8. März 1950 genehmigte der Döbelner Stadtrat Ruth Glasberg einen vierwöchigen Aufenthalt zur Klärung von Familienangelegenheiten.

Fotos von Ruth, Joachim und Monica Grasshoff (1950er Jahre)

Viele Döbelner erkannten die junge Frau auf der Straße wieder und wussten um das Schicksal ihrer Familie. Doch nur einer sprach sie an und äußerte Mitgefühl – die anderen schwiegen, sahen weg. 1999, als ich Ruth Glasberg kennenlernte, sprachen wir über diesen Besuch. Sie sagte, sie halte nichts von einer Kollektivschuld, doch die Sprachlosigkeit der Döbelner habe sie tief erschüttert.

1950 bedeutete Döbeln für sie aber nicht nur Trauer um die verlorene Kindheit. Im Krankenhaus lernte sie den Arzt Joachim Grasshoff kennen. Wenige Wochen später heirateten sie in Berlin und wanderten am 8. September 1950 nach Schweden aus. Dort wurde ihre Tochter Monica geboren. Über das Schicksal ihrer Familie schwieg Ruth Glasberg 50 Jahre lang – selbst gegenüber ihrer Tochter. Erst durch eine Projektarbeit am Döbelner Lessing-Gymnasium erfuhr Monica von der wahren Geschichte ihrer Mutter.

Herbert Näcke (1892-1952) - Elektrowarenhändler, Freimaurer, 1945 Verhandlungsführer bei der kampflosen Übergabe der Stadt

Eigentlich hätte sich Herbert Näcke am 6. Mai 1945 gar nicht in Döbeln aufhalten dürfen. Am 20. April 1945 war er als „letztes Aufgebot“ zum Volkssturm eingezogen worden. Eine Zahnentzündung verschaffte ihm jedoch kurzfristigen Urlaub.

Werbeanzeige 1930er-Jahre

Näcke war 1892 als Sohn eines Bäckermeisters in Döbeln geboren worden. Er ging hier zur Schule, absolvierte eine Ausbildung zum Elektromechaniker, heiratete seine Frau Emma Lina, arbeitete beim Städtischen Betriebsamt und eröffnete 1922 auf dem Obermarkt ein Elektrowarengeschäft. Sein Leben war eng mit Döbeln verbunden.

(1) Links ist das Elektro-Haus Herbert Näcke gut zu erkennen. (2) Heute findet man im Haus Obermarkt Nr. 6 eine Filiale von "Ernsting's family" und die Geschäfte "Kleeblatt-Moden" und "Family Schuh".

Herbert Näcke mit seiner Frau Emma Lina, geb. Pönitz und den Söhnen Horst und Werner (um 1930)

(1) Herbert Näcke mit Frau und Söhnen im Kleingarten zwischen Zwingerstraße und Meyers Hof (um 1930, Fotos Fam. Pönitz privat) (2) Blick von der Zwingerstraße Richtung Fronstraße aus ähnlicher Perspektive (2025)

An jenem 6. Mai spürte Näcke, dass es für die Stadt um alles ging. Ihr Schicksal stand auf der Kippe. Trotz der erdrückenden Übermacht der Roten Armee hatten die örtlichen NSDAP-Funktionäre Widerstand befohlen – doch Kreisleiter Rehfeld, Kampfkommandant Adler und Oberbürgermeister Gottschalk waren bereits geflohen. Näcke, der nie anfällig für die Ideologie der Nationalsozialisten gewesen war, hielt Distanz zum Regime. Als Freimaurer war er 1933 kurzzeitig in Schutzhaft genommen und von allen Berufsämtern ausgeschlossen worden. Nach der Schlacht von Stalingrad gründete er eine kleine Widerstandsgruppe, die BBC hörte und gelegentlich Flugblätter verbreitete. Er wusste um das Risiko, nahm es aber in Kauf. Seine beiden Söhne Horst und Werner galten im Krieg als vermisst – Näcke ahnte, was das bedeutete. Für ihn stand fest: Er musste jetzt handeln.

Während sich die sowjetischen Truppen am 6. Mai 1945 in Zschepplitz sammelten und die Artillerie aufbauten, hatten Volkssturmmänner am Leipziger Berg und in der Grimmaischen Straße Panzersperren errichtet. Näcke bestieg sein Motorrad, fuhr nach Großbauchlitz und beschwor die Anwohner, die Sperren zu öffnen – andernfalls würden die Russen sich den Weg freischießen.

(1) Panzersperre am Gasthof Großbauchlitz, Mai 1945 (Foto: Detlev Bleicher privat) (2) Foto aus ähnlicher Perspektive, Mai 2025

(1) Panzersperre Grimmaische Straße, Mai 1945 (Foto: Detlev Bleicher privat) (2) Foto aus ähnlicher Perspektive, Mai 2025

Ein Dolmetscher brachte ihn zum sowjetischen Abschnittskommandanten. Näcke stellte sich als Leiter einer antifaschistischen Widerstandsgruppe vor, zeigte Flugblätter und bat darum, Döbeln nicht anzugreifen. Der Kommandant fragte, ob er garantieren könne, dass sie auf der Fahrt zum Rathaus nicht beschossen würden. Näcke konnte das nicht. Verzweifelt bot er an: „Ich fahre mit dem Motorrad in jeder von Ihnen gewünschten Entfernung als Parlamentär mit der weißen Fahne voraus. Sollte Beschuss einsetzen, so bin ich ihm als erster ausgesetzt." (3) Der Kommandant lehnte ab und bestand darauf, dass Näcke mit im offenen Geländewagen Platz nahm. Näcke wusste, wie gefährlich das war – in Hartha war der Fabrikant Arthur Möbius für weit weniger vom Werwolf erschossen worden.

Er zögerte, doch schließlich stieg er ein. Gemeinsam fuhren sie durch die Grimmaische Straße und die Bahnhofstraße in die Stadt. Näcke erinnerte sich später: „Wie ein Lauffeuer ging es durch die Häuser: Die Russen sind da! Fenster wurden aufgerissen, erschrockene Frauen beugten sich hinaus, doch bald winkten auch sie uns stürmisch nach.“ (3) Weiter ging es über den Niedermarkt und die Fronstraße bis vor das Rathaus, wo sie neben dem Schlegelbrunnen hielten.

Das Döbelner Rathaus wird zur sowjetischen Stadtkommandantur (Foto vom 01. Mai 1946).

Im Zimmer 7 des Rathauses begannen die Verhandlungen. Der sowjetische Kommandant ließ seine erste Verordnung drucken. Stadtrat Röher und Näcke übernahmen kommissarisch die Verwaltung der Stadt. Andere Akteure kommen ins Spiel: Der Kommunist Karl Krötel organisierte die Beräumung von Panzersperren an der Dresdner, Ziegel- und Oschatzer Straße; Kaufmann Paul Friedrich tat dies an der Leipziger Straße. Anwohner hängten weiße Tücher in die Fenster. Krötel betrat mit Helfern die Oberbrücke, um der Roten Armee zu zeigen, dass sie nicht vermint war. Eine 10-Zentner-Bombe auf der Bismarckstraße, die Brücke und Gaswerk zerstören sollte, war zuvor entschärft worden.

Am 6. Mai 1945 um 14.30 Uhr rollten Truppen der 1. Ukrainischen Front kampflos in Döbeln ein. Die Stadt blieb weitgehend unzerstört und wurde später die „goldene Stadt“ genannt. Es kam zwar zu Plünderungen und Vergewaltigungen, die Offiziere bemühten sich jedoch, Disziplin herzustellen. Die Angst in der Bevölkerung war dennoch groß – ganze Familien nahmen sich das Leben.

Herbert Näcke (um 1950)

Am 22. Mai 1945 wurde Kurt Birnbaum zum Bürgermeister gewählt. Näcke übernahm das Amt des Rates für Handwerk und Gewerbe. 1945/46 saß er als SPD-Mitglied im Stadtrat.

1946 findet in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED statt. Näcke hat auch in der neuen Zeit seinen eigenen Kopf. 1948 wird er im Rahmen einer Säuberungsaktion aus der SED ausgeschlossen

Herbert Näcke starb am 12. September 1952 im Alter von 58 Jahren an einem Schlaganfall.

Foyer Lessing-Gymnasium

Nachklang – Was wir aus der Geschichte lernen können

Seit 1947 hängt im Foyer des Döbelner Gymnasiums, das in diesem Jahr nach Lessing benannt wurde, ein Spruch des Namensgebers: „Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind.“

Er deutet an, dass Menschen lernfähig sind und Lehren aus der Geschichte ziehen können, um Gegenwart und Zukunft besser zu gestalten. Ob dieser Optimismus berechtigt ist, sei dahingestellt – doch gerade Lehrer brauchen ihn wohl als Überlebensrezept. Was also lässt sich 80 Jahre nach Kriegsende für Döbeln daraus ableiten?

  • Krieg war und ist die schlimmste Geißel der Menschheit. Wie kann man Kriege verhindern? Pazifismus ist eine ehrenwerte Haltung, doch nicht immer ausreichend. Die Appeasement-Politik der 1930er-Jahre, etwa auf der Münchner Konferenz 1938, bestärkte Hitler nur in seinen Plänen. Der Rest ist bekannt: Anschluss der sog. Rest-Tschechei, mit dem Überfall auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg.
  • Europa ist vor allem ein Friedensprojekt. Aus der alten Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich entstand Freundschaft - sichtbar in Städtepartnerschaften und Schüleraustauschbegegnungen, auch in Döbeln.
  • Antisemitismus und jeder anderen Spielart des Rassismus, auch der Ausgrenzung von Minderheiten, muss man entgegentreten. Das ist ein Gebot des Anstands. Es gibt einen Talmud-Spruch, den ich in diesem Zusammenhang gut finde:

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn Sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.

Viele Generationen haben mit Kraft, Zeit und Liebe an Döbelns Entwicklung gearbeitet. Einzelne Menschen haben in Krisen- und Kriegszeiten Verantwortung übernommen, haben sogar ihr Leben riskiert, damit diese Stadt eine gute Zukunft hat. Nehmen wir uns an ihnen ein Beispiel und versuchen wir im Kleinen und im Großen so zu handeln, dass es dieser Stadt mit seiner wechselvollen Geschichte zur Ehre gereicht.

© Michael Höhme, "Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V. (06.05.2025)

Zitate:
1) Hannelore Kohl: Interview 1987
2) Brief Ruth Glasbergs an ihre Tante Marie Glasberg, 16.06.1946 (Familienarchiv Nordström/Glasberg)
3) Herbert Näcke: Schicksalsstunden der Stadt Döbeln - Erinnerung an das Kriegsende. URL: https://www.doebeln-entdecken.de/doebeln/kriegsende-1945.php#302116b2dc07f3c2f (16.09.2025)

Quellen:
Dörr, Manfred: Die Ritterkreuzträger der U-Boot-Waffe 1939–1945 Band II, S. 104–106.
Verfasser unbekannt: August Maus (Wikipedia-Artikel) URL: https://de.wikipedia.org/wiki/August_Maus (27.04.2025)
Busch, Rainer / Röll, Hans-Joachim: Der U-Boot-Krieg 1939-1945, Bd.1, Die deutschen U-Boot-Kommandanten. Bonn 1996
Verfasser unbekannt: MG-42 (Wikipedia-Artikel) URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Maschinengewehr_42, (27.04.2025)
Kramper, Gernot: Das MG 42 wurde "Hitler-Säge" genannt – und war von den Alliierten gefürchtet. STERN-online, 30.04.2024. URL: https://www.stern.de/digital/technik/mg-42--wieso-die-alliierten-die-toedliche--hitler-saege--fuerchteten-34567064.html (27.04.2025)
Roßmann, Felix: MG 42 brachte 10 Mio. Mark Jahresgewinn. Leipziger Volkszeitung, 13.06.1946
Kuntsche, Siegfried / Fraunholz, Uwe: Gruner, Werner. In: Wer war wer in der DDR?, Band 1., Berlin 2010
Müller, Oskar: Fünf Jahre im Land des Sozialismus. Leipziger Volkszeitung, 14.07.1952
Staatsarchiv Chemnitz, Bestand „30068 Gefangenenanstalt Hoheneck“, Gefangenenakte Nr. 9184 zu Willi Baatz
Sanden, Hans H.: Der Makel: Eine Jugend zwischen Rassen und Klassen. Heidelberg 1990
Bauch, Charlotte: Entstehen und Ende der Tümmler-Werke. Sachsen-Kurier 31.07.1993
Görtz, Armin: Jahrhundert der Familie - Familie Tümmler (10 Artikel) In: Sachsen-Kurier 1994/95
Spitzner, Sophie: Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft im Muldental – Aufbau und Entwicklung bis zum Kriegsende. Roßwein 2014 (unveröffentlicht)
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (Hg.): Hannelore Kohl (geb. Renner). URL: https://www.bundeskanzler-helmut-kohl.de/personen-1/hannelore-kohl/ (27.04.2025)
Fleischhauer, Jan: Sehnsucht nach dem Ende. SPIEGEL online, 11.06.2011. URL: https://www.spiegel.de/spiegel/a-767938.html (27.04.2025)
Schwan, Heribert: Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl. München 2011
Thadden, Elisabeth von: Die Perfektionistin. Das Leben und Sterben der Hannelore Kohl. In: Die Zeit. Nr. 10/2002
Höhme, Sebastian: Zum Beispiel die Glasbergs. Lessing-Gymnasium Döbeln 2006 (unveröffentlichtes Manuskript)
Näcke, Herbert: Schicksalsstunden einer Stadt. Manuskript Stadtarchiv Döbeln (online verfügbar unter nebenstehender Registerkarte)

Bildnachweis:
Alle Abbildungen/Fotos ohne Vermerk stammen aus der „Sammlung Döbeln“ von Michael Höhme.













Herbert Näcke - Biografisches

Herbert Näcke (1892-1952)
  • Herbert Näcke wurde am 24. April 1892 als Sohn des Bäckermeisters Friedrich August Näcke in Döbeln geboren.
  • Nach dem Besuch der Bürgerschule erlernte er das Elektromechaniker- und Schlosserhandwerk in der elektrotechnischen Fabrik Otto & Geyer.
  • Ab Ostern 1910 begab er sich auf Wanderschaft und war bei Firmen im In- und Ausland tätig.
  • Ostern 1913 kehrte er nach Döbeln zurück und nahm eine Beschäftigung in der Fabrik Siemens/Schuckert in Dresden an.
  • Vom 18. Dezember 1914 bis 17. Dezember 1918 wurde er zum Militär eingezogen und erlebte die Schrecken des Ersten Weltkrieges.
Werbeanzeige 1930er-Jahre
  • 1915 heiratete er während eines Heimaturlaubs Maria Linda Näcke, geb. Pönitz.
  • Nach dem Krieg wurde er erster Monteur beim Städtischen Betriebsamt Döbeln.
  • Schon immer hatte er den Drang unabhängig zu sein. Deshalb übernahm er im Oktober 1922 das das Elektrogeräte- und Installationsgeschäft von Ingenieur Backe im Haus Obermarkt 6.

(1) Links ist das Elektro-Haus Herbert Näcke gut zu erkennen.
(2) Heute findet man im Haus Obermarkt Nr. 6 eine Filiale von "Ernsting's family" und die Geschäfte "Kleeblatt-Moden" und "Family Schuh".

  • Im Februar 1923 bestand er erfolgreich seine Prüfung als Elektromeister.
  • Von 1907 bis 1922 war Näcke Mitglied des deutschen Metallarbeiterverbandes. Ab 1925 ist er Mitglied der Döbelner Freimaurerloge.

Fotos aus den 1930-Jahren (Fam. Pönitz privat)

  • Unter anderem deshalb wurde er 1933 zeitweise in Schutzhaft genommen und von allen Berufsämtern entbunden.
  • Nach der Vernichtung der deutschen 6. Armee und verbündeter Truppen im Winter 1942/1943 in Stalingrad und weil seine beiden Söhne Horst und Werner als im Krieg vermisst gelten, betätigt sich Näcke im Widerstand. Er hört "Feindsender" und verbreitet die hier erhaltenen Informationen über die wirkliche Kriegssituation Deutschlands mündlich und auf Flugblättern.
  • Maßgeblich seiner Initiative ist es zu verdanken, dass am 06. Mai 1945 die Rote Armee kampflos in Döbeln einmarschiert und der Stadt so sinnlose Zerstörungen und Menschenopfer erspart bleiben.
  • Am 22. Mai 1945 wurde in Döbeln der erste Magistrat unter dem neuen Bürgermeister Kurt Birnbaum gewählt. Näcke übernahm das Amt des Rates für Handwerk und Gewerbe.
  • 1945/46 engagiert sich das SPD-Mitglied im Stadtrat. Nachdem 1946 in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED stattgefunden hatte, eckt der Freigeist Näcke immer wieder an. Im Rahmen einer Säuberungsaktion wird er 1948 aus der SED ausgeschlossen.
  • Am 12. September 1952 starb Herbert Näcke mit 58 Jahren an einem Schlaganfall.

Schicksalsstunden der Stadt Döbeln

Erinnerung an das Kriegsende von Herbert Näcke

Antifaschistische Widerstandsbewegung sorgt für Aufklärung durch Handzettel

Die Stadt Döbeln wird weit und breit „Die goldene Stadt" genannt. Und weshalb? Weil sie im Gegensatz zu vielen Orten in Deutschland unversehrt geblieben ist. Weil ihr zuerst durch ein gütiges Schicksal die Schrecken eines Luftangriffes erspart geblieben sind. Aber dann vor allem, weil auch keinerlei Kämpfe in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges in ihr selbst oder in ihrer Umgebung stattfanden.

Tausende von Flüchtlingen durchzogen mit ihrer letzten Habe bepackt Tag und Nacht ziellos die Stadt. Da sämtliche Wegweiser im ganzen Land entfernt waren, entstanden Panik und Verwirrung. Große Transporte von zum Teil nur in Lumpen gehüllter KZ-Häftlinge wurden von SS-Schergen nach ihnen selbst unbekannten Zielen durch die Stadt gehetzt. Die Fliegeralarme mehrten sich täglich, oft kreisten Tiefflieger über dem Stadtgebiet.

Immer näher rückten die siegreichen Armeen. Die Russen überschritten auf breiter Front die Oder und die Neiße und stießen bis zur Elbe vor. Anfang April besetzten englische und amerikanische Truppen Leipzig und Chemnitz, Rochlitz und Geringswalde am 15. April. Panzerspitzen drangen bis Hartha und weiter bis zum Kreuz vor, standen also zwölf Kilometer vor Döbeln.

Wenn bis dahin der Kampfkommandant Adler und der Kreisleiter Rehfeld noch durch Aufrufe und Drohungen den Mut aufbrachten, die Bevölkerung zum Durchhalten aufzuputschen, so war es nun angesichts dieser Tatsache damit zu Ende. Ließen doch diese beiden Helden wenige Tage vorher Verhaftungen durchführen und noch Fleischermeister Albert Wünsch wegen seiner antifaschistischen Gesinnung am 23. April am Eichberg standrechtlich erschießen. Jetzt verloren sie voll und ganz den Kopf. Es wurde angeordnet, daß Hakenkreuzfahnen und alles Aktenmaterial der Parteidienststellen sofort zu verbrennen seien. Die Folge war, daß tagelang ein Ascheregen über Döbeln niederging. Auch der Wehrmachtsspeicher am Lazarett wurde der Bevölkerung zum freien Einkauf einige Tage geöffnet. Als sich dann aber nichts ereignete, vielmehr der Amerikaner seine Igelstellung am Harthaer Kreuz und in der Fröhne nicht aufgab, wurde diese Vergünstigung wieder aufgehoben.

Am 25. April 1945 erfolgte die welthistorisch bedeutende erste Begegnung sowjetischer und amerikanischer Truppen bei Torgau an der Elbe. Aber in Mittelsachsen, das frei vom Feinde war, befanden sich noch starke deutsche Kampfgruppen, deren Offiziere unter Führung von Generalfeldmarschall Schörner zum Äußersten entschlossen waren. Dafür sind viele Beweise vorhanden, denn die sinnlose Sprengung der lebenswichtigen Eisenbahn- und Straßenbrücken über die Mulde wie über die Elbe waren nicht so sehr Zeugnisse von Ratlosigkeit oder Wahnwitz, als vielmehr von verbissener Wut, um noch in letzter Minute des Kampfes dem Feinde Schaden zuzufügen. Es bestand die Möglichkeit, daß die einzelnen deutschen Einheiten, die oft noch von Volkssturm, SS und anderen Verbänden verstärkt wurden, durch ihren verantwortungslosen Leichtsinn und vor allem durch den verbrecherischen Entschluß ihres Herrn und Meisters, „[d]ie Waffen erst 5 Minuten nach 12 Uhr aus der Hand zu legen", noch Tausende von friedlichen Menschen in ihren unvermeidlichen Untergang mit einbeziehen konnten.

Die offenkundige Unfähigkeit des Hitlerregimes in jeder Hinsicht, die Empörung über das Verbrechen, das am deutschen Volke begangen wurde, und die große Sorge um sein Schicksal - vor allem seit der Katastrophe von Stalingrad - veranlaßten mich, seit Beginn des Jahres 1943 mit einigen beherzten Männern aus allen Schichten der Bevölkerung eine antifaschistische Widerstandsbewegung ins Leben zu rufen. Meine Männer, auf deren Vertrauen ich felsenfest bauen konnte, unterstützten mich willig bei der Verbreitung der von mir herausgegebenen Parolen. Durch systematisches Abhören feindlicher Sender, durch Erzählungen absolut zuverlässiger Freunde und Soldaten, die von den Kriegsschauplätzen kamen, vermochte ich mir immer ein einwandfreies Bild von der jeweiligen politischen wie militärischen Lage zu machen. Meine Helfer gaben meine Mitteilungen entweder von Mund zu Mund weiter oder sorgten für Aufklärung in noch weiteren Kreisen durch die von mir verfaßten Hand- und Wurfzettel. Die Vervielfältigung meiner antifaschistischen Propagandazettel erfolgte seit 1943 zuerst auf einer versteckt gehaltenen Schreibmaschine und später auf einem Abzugsapparat, dessen Matrize bei mir in einem sicheren Versteck ruhte.

Seit Anfang 1945 druckte Georg Hohmann mit Tom von Laahoven, einem absolut zuverlässigen holländischen Mitarbeiter, spät abends unter Aufbietung aller nur denkbaren Vorsichtsmaßregeln die Zettel in seiner Buchdruckerei. Das hört sich einfach an. Aber wenn man bedenkt, daß die Schriftsachverständigen der Gestapo nur an der Letterart feststellen können, in welcher Druckerei eine verbotene Schrift hergestellt worden ist, so ermißt man das Risiko, das auch der Drucker mit seiner illegalen Arbeit auf sich nahm.

Wir durften es nicht an größter Aufmerksamkeit fehlen lassen. Um durch etwaige Fundstellen der Flugblätter nicht im Vorhinein sofort auf den Ort Döbeln als Druckort schließen zu lassen, wurden durch unsere Vertrauensmänner in Waldheim wie in Roßwein die gleichen Flugblätter ausgeworfen. Und umgekehrt wurden die für diese Städte speziell verfaßten Flugzettel auch in Döbeln verteilt. Denn es war ja anzunehmen, daß der Polizei und Gestapo längst unsere Schriften vorlagen.

Daß unsere umfassende Aufklärungsarbeit auch Erfolg hatte, zeigte sich in dem Anwachsen unseres Kreises, besonders nach dem mißglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Die Zahl der Männer, die sich mir zur Verfügung stellten, wuchs, aber trotzdem war unsere Widerstandsbewegung zu schwach, um durch Empörung von innen heraus den Frieden bringen zu können.

Als Zeichen des Willens der Nazis, unbedingt an der Macht bleiben zu wollen, obwohl ja nur noch wenige Tage bis zur endgültigen Niederlage bevorstanden, erließ der Kreisleiter noch am 28. April 1945 einen Aufruf an die Bevölkerung.

Die Zahl der deutschen Deserteure wuchs täglich. Plünderungen in Kasernen, Bekleidungs- und Lebensmittellagern waren an der Tagesordnung. Alles drohte unterzugehen. Und je näher der Donner der Geschütze kam, um so mehr beschäftigte mich der Gedanke: „Wie kann ich Döbeln vor der unausbleiblichen Zerstörung bewahren? Wie kann ich Leben und Eigentum seiner Bürger schützen?"

Zu allem Unglück kam, daß ich am 20. April 1945 wegen politischer Unzuverlässigkeit noch zum „Militär" eingezogen wurde!

Mit Hacke, Schaufel und sonstigem Gerät bewaffnet, verließen wir am 23. April früh die Kaserne. Als Deutschlands letztes Aufgebot im Alter von 18 bis 65 Jahren marschierten wir über Masten bis Gut Schweta. Hier fand eine Beratung der Kompanieführer statt. Die Besatzung der „Hauptkampflinie", sechs bemooste Volkssturmmänner, jeder mit einer Panzerfaust bewaffnet, winkte uns auf ihrem Loch an der Gartenecke des Schlosses an der Zschopaubrücke zu. An der Pappenfabrik Pischwitz nochmals Rast, und dann ging es weiter über einen Notsteg - denn auch die Brücke über den Mühlgraben war gesprengt - hinein oder hinaus ins Niemandsland. Wir waren an der „Westfront", denn oben am Harthaer Kreuz standen die amerikanischen Panzerspitzen.

Schicksalsstunden der Stadt Döbeln

An der Kurve, kurz vor dem Dorfe Töpeln, mußten wir an zwei Stellen, in ungefähr 100 Meter Abstand voneinander, die Straße in einer Breite von vier Meter aufhacken. Zwei Panzerfallen mit etwa zwei Meter Tiefe sollten angelegt werden. Doch nur die obere wurde zum Teil fertiggestellt, konnte aber mit leichter Mühe umfahren werden.

Am 24. April verließen wir die noch schlummernde Stadt und zogen gen Osten. Es war ein jämmerlicher Anblick, das letzte Aufgebot über das holprige Pflaster dahinschlürfen zu sehen. Der Marsch ging über Präbschütz bis Markritz, nach Rast weiter bis Leuben, wo wir im Gewächshaus des Gärtners Keil für die erste Nacht Unterkunft fanden. Am Morgen ging es mit Schanzzeug bewaffnet durch das Dorf Wahnitz bis zu dem Lommatzsch vorgelagerten Höhenrücken, auf dem wir Schützenlöcher und einen Laufgraben auswerfen mußten. Die „Hauptkampflinie“ in der Lommatzscher Ebene vor uns bestand aus einem schweren und einem leichten MG. Und die Besatzung des Bahndammes und des Höhenrückens waren nur etwa 15 bis 20 Volkssturmmänner, die genau wie wir, erst vor wenigen Tagen zum Kriegsdienst eingezogen waren. Der Kampfkommandant, ein blutjunger SS-Offizier, übte unten im Dorf Wahnitz mit 20 bis 25 vierzehnjährigen Hitlerjungen die Anwendung der Panzerfaust. So sah die „Ostfront" im Abschnitt Lommatzsch-Zehren aus. An den Rauchfahnen und dem Artilleriefeuer, das grollend aus dem Elbtal zu uns herüberdrang, wurde uns gewahr, daß sich die Front langsam aber stetig zu uns heranschob. Als wir am 27. April morgens die schützende Dorfstraße verließen, um unsere Arbeiten fortzusetzen, bekamen wir heftig Feuer. Der Russe war bei Lommatzsch durchgebrochen und hielt unsere neugebaute Stellung besetzt. In das Quartier zurückgekehrt, packten wir schleunigst unsere Sachen und setzten uns in Richtung Heimat ab.

Ich hatte mir nach Leuben ein Fahrrad besorgt. Wir marschierten über Rüsseina und Choren bis Naußlitz, wo wir in einer Scheune Nachtquartier bezogen. Durch Zureden gelang es mir, vom Spieß bis 1 Uhr Nachturlaub zu erhalten. In Döbeln angelangt, besuchte ich einige meiner Männer. Während meiner kurzen Abwesenheit hatte sich auch Döbeln zur äußersten Verteidigung eingerichtet. Die Panzersperren an den Ausläufern der Stadt waren geschlossen, die Muldenbrücken unterminiert und zum Sprengen vorbereitet, in den Straßen kontrollierten Patrouillen die Passanten. Die Bevölkerung sah mit ängstlichen Erwartungen den kommenden Ereignissen entgegen.

Mit großer Sorge um das Schicksal unserer Stadt verließ ich in den frühen Morgenstunden Döbeln. Ich eilte meiner Kompanie nach, die nun nicht etwa in Richtung Döbeln, wie wir hofften, sondern südöstlich über Roßwein, Etzdorf, quer durch den Zellwald und weiter bis Reichenbach marschierte. Am nächsten Tag, den 30. April, ging es weiter über Freiberg bis Dorfhain.

Aufgrund einer schmerzhaften Zahnentzündung bekam ich für den 5. und 6. Mai Urlaub, den ich zur Zahnbehandlung in Döbeln verwenden wollte. Mit meinem Kameraden Kurt Köhler aus Sörmitz, einem Leidensgefährten, kam ich am Nachmittag in Döbeln an. Sofort nahm ich Verbindung mit meinen Männern auf.

Am Abend des 5. Mai 1945 wurde mir durch einen Vertrauensmann berichtet, daß Hauptmann Adler, der Kampfkommandant der Stadt Döbeln, mit seinem Stabe die Flucht vorbereite. Und tatsächlich hatten sich die Herren in der Nacht zum Sonntag, gegen 3 Uhr morgens, davongemacht. Ich konnte mich gegen 1/2 6 Uhr persönlich davon überzeugen, daß sich die „tapferen Verteidiger" unserer Stadt, vorläufig zwar nur nach dem Stadtgut Greußnig abgesetzt hatten, um von dort die weitere Fluchtvorbereitungen zu treffen. Auch der stellvertretende Kreisleiter Rehfeld war mit seinem Gefolge zugegen. Dieser Mann hatte noch vor wenigen Wochen den damaligen Stadtortältesten Oberst Biedermann verhaften lassen, da sich dieser, in nüchterner Erkenntnis der Lage, gegen eine Verteidigung der Stadt ausgesprochen hatte. Jetzt war Rehfeld genauso ratlos und schlotterte vor Angst und Ungewißheit, wie sein ganzer Anhang. Rehfeld war mit seinem Gefolge zugegen. Dieser Mann hatte noch vor wenigen Wochen den damaligen Stadtortältesten Oberst Biedermann verhaften lassen, da sich dieser, in nüchterner Erkenntnis der Lage, gegen eine Verteidigung der Stadt ausgesprochen hatte. Jetzt war Rehfeld genauso ratlos und schlotterte vor Angst und Ungewißheit, wie sein ganzer Anhang.

Unten in der Stadt begann der 6. Mai voller Aufregung und Unruhe. Die Läden wurden zum Teil durch die Hintereingänge gestürmt, da sich jeder noch mit Lebensmittel für eine möglichst lange Zeit versehen wollte. Trupps von schwerbepackten Flüchtlingen zogen ab. Die letzten noch transportfähigen Lazarettinsassen wurden nach Geringswalde oder Roßwein mittels Pferdegespanne verlegt. Durch einen Spezialtrupp ließ ich die entlang der Roßweiner Anlagen provisorisch für das Stadtgut Greußnig gelegte Fernsprechleitung an mehreren Stellen unterbrechen.

Zahllose Gerüchte über den Einmarsch der Russen schwirrten umher, andere hatten leibhaftig bereits amerikanische Soldaten gesehen. Am wahrscheinlichsten, auch nach der Richtung des mitunter deutlich vernehmbaren Geschützdonners zu urteilen, erschien mir die Mitteilung, daß die Rote Armee bereits bei Ostrau im Kampf stünde. Sofort fuhr ich mit dem Fahrrad in diese Gegend. Im grauen Nieselregen blieb ich unentdeckt. Über Möbertitz und Zschaitz gelangte ich in das Jahnatal. Bauern standen angstvoll lauschend in ihren Gehöften und warnten, es wären bei Ostrau schwere Schießereien im Gange. Und tatsächlich. Es fanden lebhafte Kämpfe statt. Lose deutsche Truppenverbände hatten sich hier und da eingegraben. Ich konnte ungehindert bis zum Kalkwerk Münchhof vordringen. Weiter kam ich nicht. Es war hier völlig ausgeschlossen, mit der Roten Armee in Verbindung zu treten. Unverrichteter Dinge mußte ich wieder umkehren und kam völlig durchnäßt in Döbeln an.

Aber auf der Rückfahrt war das Dröhnen von Motoren und das unverkennbare Rollen von Panzern von der Staatsstraße Ostrau-Mügeln-Döbeln zu mir herübergedrungen. Für mich stand fest, daß der Angriff von Nordwesten, also über Zschepplitz, erfolgen würde.

Inzwischen war in Döbeln gegen 1/2 1 Uhr zum ersten Male während des Krieges Panzeralarm gegeben worden. Dieses Zeichen machte mit einem Schlag der gesamten Bevölkerung den unerbitterlichen Ernst der hoffnungslosen Lage bewußt. Die Väter und Mütter bangten um ihre Kinder, die Frauen um ihre Männer. Bei einer Rundfahrt mit meinem Motorrad, das mir inzwischen Meister Kossack fahrbereit gemacht hatte, stellte ich fest, daß die Erregung der Einwohnerschaft ins Unermeßliche wuchs.

Zudem waren noch zahlreiche Panzersperren an den Ausgängen der Stadt vorhanden. Blieben sie geschlossen, so war mit tödlicher Sicherheit zu erwarten, daß sich die Vorhuten der Russen auf einen Kampf vorbereiten würden. Und da die Sperren sämtlich in der Nähe von Wohnhäusern, ja zwischen ihnen errichtet waren, so lag das Schicksal der dort befindlichen Menschen klar auf der Hand.

Die Besatzung der Panzersperren, meist ältere Volkssturmmänner, hatten - im Gegensatz zu den Offizieren - wenig Lust zu der aussichtslosen Verteidigung. Kleine Kampfgruppen setzten sich geschlossen nach den östlichen Stadtteilen und in Richtung Roßwein ab. Ganze Einheiten folgten ihrem Beispiel, und die Bevölkerung Döbelns sah ihnen ohne zu trauern nach.

Nach meiner Rückkehr traf ich vor der Polizeiwache den Oberbürgermeister Gottschalk. Ich sprach von meiner Kontrollfahrt und stellte ihn vor Augen, was für eine Gefahr er leichtfertigerweise über die ganze Stadt heraufbeschwören würde, wenn die Panzersperren noch länger erhalten blieben. Und daß er doch für das Leben der Einwohnerschaft verantwortlich sei. Doch der letzte Nazi-Oberbürgermeister gab mir nur ausweichende Antworten. Er habe noch keinen Befehl vom Kampfkommandanten bekommen und würde diesen jetzt kaum finden. Von seiner Verantwortung der Stadt gegenüber sagte er kein Wort Er stieg in seinen Wagen und verschwand. Feige und verantwortungslos ließ er die Stadt im Stich und fuhr vermutlich dem Kampfkommandanten wie dem sauberen Kreisleiter hinterher. Auf Nimmerwiedersehen!

Aber die Panzersperren standen nach wie vor. Zu diesem Zeitpunkt schritten bereits einige beherzte Männer zur Selbsthilfe. Karl Krötel, der frühere Stadtrat, ließ sich trotz des strikten Verbotes seitens der aufgeregten Polizei nicht daran hindern, die Sperren, die an der Dresdner-, Oschatzer- und Ziegelstraße dicht beieinanderlagen, zu öffnen. Selbst der drohend vorgehaltene Revolver eines Offiziers schreckte ihn nicht mehr ab. Die Bewohner der angrenzenden Häuser halfen eifrig mit. Auch verlangte er in diesem Stadtteil, daß zum Zeichen der Kapitulation weiße Tücher in den Fenstern ausgelegt und weiße Fahnen gehißt wurden. Auf meine Veranlassung folgten die Leipziger-, Georgen-, Kloster- und Ritterstraße diesem Beispiel. Zum ersten Mal hingen in der Stadt die Zeichen der bedingungslosen Kapitulation. Bei einer Kontrollfahrt stellte ich fest, daß Kaufmann Friedrich mit Anwohnern die Sperre an der Leipziger Straße beseitigt hatte, bedenklich dagegen war, daß die an der Mühle Günther in Großbauchlitz noch geschlossen war. Ich entschloß mich, umgehend Verbindung mit der Roten Armee aufzunehmen, um die Stadt vor einer Beschießung zu bewahren. Höchste Eile war geboten. In aller Geschwindigkeit ließ ich durch die antifaschistische Widerstandsbewegung die von mir herausgegebenen Flugblätter verteilen. In allen Stadtteilen riß die Bevölkerung meinen Helfern die Blätter aus der Hand, auf denen folgendes stand:

„Achtung Döbelner!

In dieser schicksalsschweren Stunde unseres Vaterlandes rufen wir Euch zur Mitarbeit auf. Die Nazis haben auch in unserer Stadt den Werwolf ins Leben gerufen und wollen die anrückenden Feindpanzer aus Hausfluren und Wohnungen angreifen. Verhindert Euch unbekannten Personen den Zutritt zu Euren Wohnungen, aber merkt sie Euch!

Für jede aus dem Hinterhalt geworfene Handgranate werden die Besatzungstruppen vielfache Vergeltung üben. Laßt Euch nicht durch Drohungen einschüchtern, - die Stunde der Vergeltung naht. Nur so verhütet Ihr ein Bombardement unserer Stadt. Bewahrt Ruhe. Legt beim Eintreffen feindlicher Panzerspitzen weiße Tücher aus den Fenstern, aber meidet die Straße.

Es lebe das Vaterland.

Das Nationale Komitee."


Mein Vertrauensmann bei der Polizei, Meister Schubert, wurde in mein Vorhaben eingeweiht. Dann fuhr ich mit meinem Motorrad den heranrückenden Russen entgegen. Volkssturmmänner und kleine Einheiten, die in der „Weißen Taube" untergebracht waren, flüchteten stadtwärts. Während der Fahrt hörte ich, wie Artilleriegeschosse im Stadtgebiet mit dumpfen Gedröhn explodierten. Es fielen Granaten in die Ortsteile Klein- und Großbauchlitz, in die Klostergärten und in den Schlachthof. Auf der Großbauchlitzer Brücke wurde ich dreimal beschossen, aber die MG-Salven gingen zum Glück über mich hinweg. Da die Panzersperre immer noch geschlossen war, mußte ich umkehren. Ich schob mein Motorrad entlang der Gartenkolonie durch Günthers Grundstück und stellte es am Eingang der Mühle ab. Um mich war eine drohende Stille, eine Nervenprobe wie nur selten im Leben eines Menschen. Über den Gartenzaun sah ich größere russische Truppeneinheiten den Zschepplitzer Weg herunterkommen, außerdem beobachtete ich, wie sich am Anfang der Grimmaischen Straße ein russischer Spähtrupp anschlich. Ja, ich war an der richtigen Stelle, um Verbindung mit der Roten Armee zu bekommen. Da gesellte sich Malermeister Berthold zu mir, der sich über die noch geschlossene Sperre sehr entrüstete. Ich riet ihm, diese mit Hilfe von Einwohnern sofort zu beseitigen. Wenige Minuten danach erschien ein russischer Motorradfahrer, er fuhr bis zur Sperre, warf sein Rad herum und raste zurück. Wieder war die Hoffnung gescheitert, mit den Russen in Verbindung zu treten. Da entdeckte ich einen alten Mann am Fenster. Ich rief ihm zu: „Hängt weiße Tücher ans Fenster!", worauf er ungläubig fragte: „Ob's auch nicht schiefgeht." „Jetzt bestimmt nicht mehr", war meine Antwort.

Kurze Zeit danach hörte ich Schritte. Ein Zivilist kam stadtwärts geschlendert, gemächlich, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte einen blauen Pullover an, trug ziemlich zerknüllte Hosen und machte, seinem Gesicht nach zu urteilen, ganz den Eindruck eines Ostarbeiters. Ich rief ihn an und fragte, ob er Russen gesehen habe. Nein, antwortete er in einem ausgezeichneten Deutsch, doch dabei sahen seine Augen forschend umher. Er zeigte auf die Straße nach der Stadt und fragte: „Sind die Menschen da vorn Soldaten?" - Es waren die Anwohner, die mit Berthold zur Beseitigung der Panzersperre im Anmarsch waren. „Nein, es sind Zivilpersonen", antwortete ich, und das schien ihn zu befriedigen. In einem lebhaften Tonfall fragte er mich plötzlich: „Was wollen Sie eigentlich hier? - „Ich will mit den Russen Verbindung aufnehmen", antwortete ich. „Ich bin der Führer einer antifaschistischen Widerstandsbewegung und will mit ihnen wegen kampfloser Übergabe der Stadt Döbeln in Verbindung treten!" Mein Gegenüber sah mich zuerst mißtrauisch an, dann erhellten sich seine Züge und voller Eifer sagte er. „Das können Sie tun. Ich bin Russe, ein Dolmetscher. Folgen sie mir." Ich enthüllte meine weiße Fahne und marschierte mit meinem neuen Bekannten die völlig menschenleere Straße entlang zur Villa Selma. Hier befand sich die Spitze der russischen Vorhut. Ich wurde einem Offizier vorgestellt, der mein Anliegen anhörte, aber energisch und bestimmt ablehnte. „Es ist zu spät, es ist zu spät", wiederholte er mehrere Male. „Sehen Sie...", damit zeigte er auf die Ziegraer Höhen südwestlich der Stadt. Und wirklich, da oben, bei dem nunmehr aufgehellten Wetter klar erkennbar, etwa von der Mitte der Straße Döbeln-Waldheim aus, setzte deutscher Beschuß ein. Es mußten Artilleriegeschosse sein, nach dem dumpfen Dröhnen zu schließen. Aber auch das Tacken von MGs war vernehmbar, wie einzelne Gewehrfeuer. Es war eine mehr als ernste Situation. Die Russen standen im Begriff, in die Stadt Döbeln einzuziehen. Ich hoffte inständig, daß in diesem Augenblick die Panzersperre hinter uns aus dem Wege geräumt würde, was tatsächlich auch geschah. So konnten ja die Russen von meinem guten Willen überzeugt sein und ohne jeglichen Widerstand in die Stadt hineinrollen. Und da setzte nun ausgerechnet deutsches Feuer ein. Es war zum Verzweifeln! Russische Truppen waren inzwischen die Zschepplitzer Straße heruntergestürmt und hatten Geschütze in Stellung gebracht. Nun erzählte auch noch der Dolmetscher, daß er am Vormittag bereits in der Stadt gewesen sei und dort allerhand Truppen und größere Volkssturmeinheiten gesehen habe. Man habe ihn als Spion verhaftet, doch sei es ihm mit großer List gelungen, sich wieder zu befreien.

Die Situation für die Rettung der Stadt hing am seidenen Faden, doch ich betonte immer wieder meinen Unterhandlungswillen. Schließlich hatte ich Erfolg. Der Dolmetscher brachte mich Richtung Zschepplitz zu einem anderen Offizier, und dieser verwies mich an den Abschnittskommandenten. Bei ihm begann das Frage- und Antwortspiel noch einmal.

Nach Minuten des Überlegens fragte mich der Abschnittskommandant, ob ich dafür garantieren könnte, daß wir auf der Fahrt zum Döbelner Rathaus nicht beschossen würden. Das konnte ich natürlich nicht. „Es gibt noch Fanatiker, und die Mitglieder der getarnten „Werwolfbewegung" sind zu beachten. Doch würde ich mit dem Motorrad als Parlamentär mit der weißen Fahne voraus fahren", so meine Antwort. Dem Offizier war das nicht sicher genug. Er hielt es für besser, wenn ich in seinem Wagen mitfahren würde. Doch ausgerechnet in diesem Moment meldete ein Spähtrupp, daß in südlicher Richtung drei deutsche Panzer und ein Panzerspähwagen gesichtet worden seien. Sofort erwachte wieder Mißtrauen bei den russischen Offizieren. Doch schließlich konnte ich ihren Argwohn zerstreuen, gemeinsam fuhren wir in die Stadt. Am Bahnübergang vor dem Gasthof „Stadt Döbeln" stand ein Trupp Ostarbeiterinnen von der Firma Rudolf Neider in ihrer netten einheitlichen Kleidung und winkte uns begeistert zu. Die gleiche Freude am Forsthaus, hier begrüßten die Ostarbeiter der Firma Großfuß ihre russischen Befreier. Weiter ging es die Bahnhofstraße hinunter, über den Niedermarkt und durch die Fronstraße. Fenster wurden aufgerissen, Frauen winkten, als sie mich erkannten. „Die Russen sind da“ - wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Überall wurden weiße Tücher aus den Fenstern gehangen.

Am Rathaus machten wir halt. Auch auf dem Obermarkt hißten, auf meine Aufforderung hin, die Anwohner zum Zeichen der Kapitulation weiße Fahnen. Das Rathaus war verschlossen. Gemeinsam gingen der Kommandant, dessen Adjutant, der Dolmetscher und ich zur Polizeiwache. Dort fragte ich nach dem Oberbürgermeister und nach Polizeihauptmann Berger. Wie vorauszusehen, waren beide nicht da. Nur Stadtrat Röher konnte aus seinem Dienstzimmer herbeigeholt werden.

In Zimmer 7 begannen die denkwürdigen Verhandlungen. Der Kommandant gab die erste Verordnung bekannt, die sofort in der Druckerei Thallwitz gedruckt und umgehend in der Stadt überall angeheftet wurde. Dem Stadtrat und mir übergab der Russe die kommissarische Verwaltung der Stadt Döbeln, bevor er sich durchaus herzlich von uns verabschiedete.

Die Verordnung, die ich auch durch Lautsprecher bekanntgeben ließ, lautete:

Das russische Oberkommando gibt bekannt: Die Stadt Döbeln ist mit russischen Truppen besetzt.

Der Kampf ist vorüber.

Alle Schußwaffen und Munition sind sofort bei der Polizeiwache abzugeben; dieser Befehl gilt sowohl für Zivil- wie Militärpersonen. Wer die Waffen nicht abliefert, wird streng bestraft.

Alle Soldaten und Volkssturmmänner, sie sich im Stadtgebiet aufhalten, haben sich sofort in der Polizeiwache zu melden und da selbst ihre Waffen abzugeben.

Die Verdunklungsvorschriften sind weiterhin einzuhalten.

Den Anweisungen der Ordnungspolizei ist Folge zu leisten.

Jedes Haus muß eine weiße Fahne hissen.

Die Sicherheit der Bevölkerung, insbesondere der Frauen und Kinder, wird nach jeder Richtung hin gewährleistet.

Plünderungen werden mit dem Tode bestraft.

Täglich von 22 bis 7 Uhr besteht bis auf weiteres Ausgehverbot.Döbeln, den 6. Mai 1945

Das Komitee"

Ich begleitete die Russen zu ihren Wagen zurück und nahm dort mein Motorrad, das eine Ordonanz nachgefahren hatte, wieder in Empfang.

Und jetzt erfuhr ich erst, daß keine 20 Minuten vor unserer Ankunft tatsächlich drei deutsche Panzer eine Schleife durch die Stadt beschrieben, den Obermarkt passiert, dabei den Verkehrsteiler vor dem Kaufhaus Rudolf überfahren und die Stadt in Richtung Roßwein verlassen hatten. Wären sie uns, der Übergabe-Abordnung begegnet, so hätte es eine Katastrophe bedeutet.

Die Besetzung der Stadt am 6. Mai 1945

Gegen 1/2 3 Uhr begann der Einmarsch der Roten Armee. Unübersehbare Kolonnen von russischen Truppen zogen in Richtung Roßwein, Nossen, Waldheim und Hartha durch die Straßen der Stadt. Panzer über Panzer rollten unheimlich dröhnend in langen Zügen hintereinander, gefolgt von Lastautos, Spähwagen und Fuhrwerken mit geduldigen, ausdauernden Pferden.

Im Nu war der Bann von der Bevölkerung gewichen. Die alles lähmende und erstickende Angst vor dem, was die nächsten Stunden bringen würden, hatte einem befreiten Aufatmen Platz gemacht. Die Russen waren ja gar nicht so, wie sie den Deutschen immer dargestellt wurden Es waren Menschen wie wir. Vergnügt, da das Ende des Krieges bevorstand. Sie waren ausgezeichnet gekleidet und - im Gegensatz zu uns - glänzend ernährt.

Die Erwachsenen waren anfangs noch etwas scheu und befangen. Der Übergang vom Alten zum Neuen war zu schnell erfolgt. Er war zu stark, als daß man sich mit einem Schlag in das wiedergeschenkte Leben versetzen konnte. Doch es hätte, durch einen einzigen Schuß eines Fanatikers, auch ganz anders kommen können... Stattdessen riefen die Russen von ihren Panzern, auf denen sie zu Dutzenden saßen, zu den Fenstern hinauf, sie winkten und lachten. Ja, manche hatten sogar ein Instrument bei sich, eine Balalaika oder eine Gitarre, und ihre machtvollen Lieder klangen zum ersten Mal gewaltig von den Häusermauern der Stadt Döbeln wider.

Hielten sich die Großen noch etwas zurück, so waren die Kinder sofort in ihrem Element. Sie zeigten den Russen den Weg und brachten ihnen Wasser, streichelten die Pferde, begutachteten die Autos. Und bekamen die Kinder -wie es oft genug vorkam- etwas geschenkt, so rannten sie mit dem Brot oder der Wurst freudig nach Hause. Bald erschienen auch die Erwachsenen mit Eimern voller Wasser, um die durstigen Pferde zu tränken.

Die Macht der Roten Armee trat bereits in den ersten Stunden ihres Einzuges überwältigend in Erscheinung. Es gab einen Vormarsch, der ohne Halt, ohne Stocken und Verzögerung im Dienste eines gewaltigen, starken Willen stand: Diesen Krieg mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht voll und ganz zu beenden! Es waren Stunden ungeheuersten Erlebens. Ein Tag, der für alle Zeiten in die Geschichte unserer Stadt eingehen wird.

Es läßt sich heute nur schwer nachempfinden, was an jenem Maisonntag 1945 in der Brust der Männer vor sich ging, die für das Schicksal ihrer Vaterstadt mutig und bewußt die Verantwortung auf sich nahmen. Es ist ihnen gelungen, die Bewohner sowohl der Stadt Döbeln, wie auch ihrer Umgebung, vor Not und Elend zu bewahren. Diese Tatsache erkennt man erst voll und ganz, wenn man durch andere Städte Sachsens geht und sieht, daß sich deren Einwohner aus den Trümmern eine neue Heimstadt aufbauen müssen. Die Döbelner haben ihr Dach über dem Kopf behalten.

Doch der Weg des Aufbaues eines normalen Wirtschaftslebens ist auch für die Stadt Döbeln nicht leicht gewesen. Die von der russischen Kommandantur ernannten neuen Behörden konnten sofort die ersten Maßnahmen einleiten, die auf die Wieder-Ingangsetzung einer geordneten Verwaltung abzielten. Es galt, zuverlässige Männer zu finden, die in Amtsstellen die neue, antifaschistische-demokratische Gesinnung vertraten und die zum Aufbau eines Staates, der ja noch gar nicht vorhanden war, die geeigneten Voraussetzungen schufen. So wurde noch am Abend des 6. Mai ein Stadtkomitee gebildet und mit der Aufstellung einer Hilfspolizei begonnen.

Antifaschisten aller Schichten der Bevölkerung wie Kurt Birnbaum, Albert Berthold, Fritz Altknecht, Borowski, Arthur Dittrich, Willy Dietrich, Arno Dietze, Marie Eichel, Paul Grünert, Carl Friedewald, Georg Hohmann, Max und Arno Hanke, Anna Jähnig, Walter Käbisch, Walter Kuchanny, Gustav Krohn, Karl Krötel, Else und Kurt Kränkel, Adolph Lantzsch, Werner Manneberg, Karl Meschedes, Eugen Moll, Bernhard Müller, Otto Neuhäuser, Herbert Näcke, Felix Roßmann, Arthur Reiche, Otto Seibt, Gerhard Steingräber, Kurt Steinmüller, Rudi Schmidt, Paul Schwarzbach, Otto Schubert, Arthur Thieme, Ernst Umlauf, Rudolf Voigtländer, Willy Walther, Max Werner, Emil Zschunke, Oswald Zeibig, Richard Zieger und viele andere stellten sich in uneigennütziger Weise zur Verfügung. Als russische Sprachkundige nahmen die Dolmetscher Moll, Friedewald, Borowsky und Lantzsch ihren Dienst auf. Als erstes wurde mit der Sicherung der Lebensmittelvorräte begonnen. Es gab mitunter Schwierigkeiten, aber niemals ein Ausbleiben von Nahrungsmitteln. Wegen des Ausfalls der Molkereifahrzeuge wurden Handwagenkolonnen gebildet. Die Ingenieure Moll und Kuchanny schufen mit ihren Männern eine provisorische Stromversorgung, indem sie vom Werk Tümmler eine Verbindung nach dem Stadtnetz legten.

Eines der schwierigsten Probleme war die Rückführung der zahlreichen Ausländer und Ostarbeiter, was angesichts der zerstörten Verkehrswege geradezu unmöglich erschien. Aber es gelang!

Die Versorgung der Tausenden von Flüchtlingen bereitete schwere Sorgen. Die Rückwanderer und Ausgebombten wurden in der Werkküche Tümmler verpflegt. Hier waren es wieder Moll und Kuchanny, die mit ihren Helfern bis 1500 Menschen täglich beköstigten. Die erforderlichen Lebensmittel stellten die Döbelner Lebensmittelhändler zur Verfügung. Untergebracht wurden die Ärmsten in den Barackenlagern und Schulen. Dutzende von Trecks schlesischer und pommerscher Bauern wurden täglich durch die Stadt geschleust und ihnen mit Gespann und Zugtieren ausgeholfen.

Die russische Kommandantur zog ins Rathaus. Die frühere Arbeitsfront wurde als Bürgermeisterei eingerichtet, die den Bewohnern in ihrer übesichtlichen Anordnung zu einem Begriff von Ordnung und gutem Willen im öffentlichen Leben wurde.

In einer am 22. Mai 1945 unter Vorsitz von Kommissar Remischenko stattgefundenen Sitzung wurden zum ersten Magistrat gewählt und verpflichtet: Kurt Birnbaum, Erster Bürgermeister; Arthur Dittrich, Zweiter Bürgermeister und Amt für Handel und Versorgung; Herbert Näcke, Rat für Handwerk und Gewerbe, Karl Meschedes, Rat für Kommunale Einrichtungen; Paul Schwarzbach, Rat für Gesundheitswesen; Walter Käbisch, Rat für Kultur- und Schulfragen; Adolph Lantzsch, Rat für Sozialfragen; Paul Grünert, Chef der Polizei; Rudolf Schmidt, Chef der Ordnungspolizei; Max Hanke, Chef der Kriminalpolizei; Fritz Altknecht, Chef der Feuerwehr; Gerhard Steingräber, Sekretär.

Die Verordnungen waren mitunter hart, aber sie dienten dem Wohl der Gesamtheit. Und sie waren richtig, denn das Leben wurden von Tag zu Tag normaler. In steigendem Maße flossen landwirtschaftliche Produkte in die Stadt, reichlich konnte die Bevölkerung mit Gemüse und Obst versorgt werden. Eine Großmarkthalle wurde in Betrieb genommen, die die zentrale Lenkung der ganzen Lebensmittelversorgung ermöglichte. Es entstanden die Zentral-Ein- und Verkaufsgenossenschaft, die Industrie- und Handelskammer, eine Fahrbereitschaft zur straffen Zusammenfassung des Transportwesens, und die Handwerkerschaft bildete zwecks schneller Erledigung von plötzlich auftretenden Reparaturaufträgen Arbeitsgemeinschaften.

Die notleidende Bevölkerung in Dresden, Leipzig, Chemnitz und im Erzgebirge wurde auf Veranlassung des Landrates Kränkel mit Lebensmitteln und Frühgemüse versorgt. Neue Parzellen wurden vergeben, und Arbeitskräfte auf das Land geschickt, um bei der Feldbestellung zu helfen. Aus Rohstoffen, die bisher nur der Vernichtung gedient hatten, wurden in den Betriebsstätten Haus-, Küchen- und landwirtschaftliche Kleingeräte hergestellt In den Schaufenstern der Läden erschienen die ersten Erzeugnisse der heimischen Industrie. Auch das kulturelle Leben begann sich wieder zu regen. Das Stadttheater öffnete seine Pforten und die Kinos begannen ebenfalls wieder zu spielen. Außerdem wurden neue Betriebe eröffnet. So gründete die Firma „Kuchanny & Bober" eine Fabrik für Beleuchtungskörper, die Firma „Hacker & Co", Karl Scholz sowie „Krenkel & Weber" je eine Maschinenbauanstalt. Ingenieur Wagner eine Zylinderschleiferei, „Lindner & Däberitz" eine Konserven- und Gemüseverarbeitungsfabrik Die chemisch-pharmazeutische Fabrik von „Weiß & Co", verlagerte und vergrößerte ihre Fabrikationsräume. Das städtische Zweckunternehmen „Döbelner Sanitätsgenossenschaft" schuf eine größere Produktionsstätte. Eine Tabakverwertungs GmbH wurde gegründet und weitere viele Klein-Werkstätten.

Infolge der Wiedergutmachung und Zertrümmerung des Kriegspotentials wurden die Firmen „Rudolph Neider", „Liebert & Gürtler", „Johannes Großfuß", „H. W. Schmidt", „Robert Tümmler" und „Franz Richter" demontiert. Sämtliche Firmen erhielten die Wiederanlaufgenehmigung, beteiligen sich ausnahmslos in gegenseitigem Wettbewerb und am Wiederaufbau der Friedenswirtschaft.

So war es kein Wunder, daß in den Kreisen der Flüchtlinge und Umsiedler, die mit Bewunderung und oft schmerzlich-wehmühtigem Staunen die Straßen unserer Stadt passierten, das bereits am Anfang dieser Aufzeichnungen erwähnte Wort von der „goldenen Stadt" aufkam. Ja, eine goldene Stadt war Döbeln wirklich geblieben, dank der Gunst des Schicksals.


Das Original der Aufzeichnungen Herbert Näckes befindet sich im Döbelner Stadtarchiv.









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