Kirchgassen
Große „Kleine Kirchgasse“? Kleine „Große Kirchgasse“?
Die Wortspielerei unserer Titelzeile kann alte Döbelner nicht verwirren, wohl aber Gäste der Stadt. Während die Große Kirchgasse als Einbahnstraße gerade einmal 40 Meter Länge misst, kann die Kleine Kirchgasse über 200 Meter und Mehrspurigkeit aufweisen. Nun könnte man beim Durchschreiten dieser Straßen denken, die Straßenschilder seien versehentlich vertauscht worden, doch die Stadtgeschichte klärt uns auf:
Im Mittelalter existierte nur eine Kirchgasse. Sie verlief in südliche Richtung, beginnend an der Ritterstraße nahe dem Obertor an der Oberbrücke. Sie folgte dann dem Verlauf der Stadtmauer und endete auf dem Platze an St. Nicolai unterhalb des Schlossberges. Auf diesem schmalen Verbindungsweg, gerade breit genug für Mann, Ross und Wagen, gingen die Ritter und Gefolgsleute des Burgherren von ihren Häusern in der Ritterstraße oder vom dortigen Oberen Gasthof „Zur Sonne“ zum Schlosse oder zur Kirche.
Die Große Kirchgasse gab es anfangs gar nicht. Ausgehend von St. Nicolai dehnte sich in westliche Richtung bis zum späteren Mittelmarkt der erste Oberfriedhof St. Nicolai aus. Später folgte ein zweiter Begräbnisplatz auf dem Areal des heutigen Niedermarktes, wo bis zum Stadtbrand 1523 die Jacobikirche stand. Um 1475 wütete die Pest auch in Döbeln, so dass Friedhöfe vor den Toren der Stadt angelegt werden mussten. Ein zweiter Oberfriedhof entstand hinter dem Wappenhenschbau und wurde dort bis 1883 unterhalten. Eine Mauer dieses Gräberfeldes an den Anlagen längs der Mulde zeugt noch heute davon.
(1)/(2) Seltene Aufnahmen aus der Vogelperpektive - Man sieht die Kleine Kirchgasse, die auf die Ritterstraße zuläuft. Die alte Bebauung links der Straße wurde, oft mitsamt den Nebengebäuden dahinter, weggerissen. Auch auf der rechten Straßenseite mussten zahlreiche Häuser weichen.
(3) Das Haus, was hier um die Jahrhundertwende abgerissen wird, stünde heute mitten auf der Straße. Im Juli 1900 beschließen die Stadtverordneten die Aufstellung eines Luther-Denkmals und die Gestaltung eines Platzes mit vier Luthereichen. Wahrscheinlich aus diesem Grund musste das Haus weichen.
(4) Blick von der Nicolaikirche in die Kleine Kirchgasse Richtung Ritterstraße - Wegen der Nähe zur Mulde war die Kleine Kirchgasse schon immer hochwassergefährdet.
(5)/(6) Blick von der Ritterstraße in die Kleine Kirchgasse - Hier sieht man, dass die Kleine Kirchgasse früher wirklich sehr klein war.
(7) Nach dem Abriß zahlreicher Häuser wurde die Kleine Kirchgasse zu einer Hauptverkehrsader. Klein ist hier gar nichts mehr.
So wurde der Obermarkt nach und nach zur Bebauung frei und nahm seine heutigen Ausmaße, die durch das Alte Amtshaus und die Häuserfront bis zur Sattelstraße gebildet wurden, an. Danach kam die Zeit für den Bau einer Verbindung vom Obermarkt zum heutigen Lutherplatz bei St. Nicolai. So entstand die Große Kirchgasse, die breiter als die alte Kirchgasse ausfiel und dadurch diesen hochtrabenden Namen erhielt. Und weil beide Straßen im Entstehungsfeld Döbelns liegen, gibt es viel Interessantes zu berichten.
Im Verlauf mehrerer Jahrhunderte hat sich vor allem die Kleine Kirchgasse in ihrer Bausubstanz verändert. Sie ist aber bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine schmale Straße mit vielen kleinen Häusern geblieben. Viele Gewerbetreibende und Händler hatten sich angesiedelt. Es gab Geschäfte für Lebensmittel, Fleischwaren, Backwaren und Gemüse. Das Angebot ergänzten Eisenwaren, Küchengeräte, Schuhe, Elektrogeräte, Schreibwaren und Drogerieartikel. Zwei Gaststätten mit den verlockenden Namen „Heiterer Blick“ und „Herkules“ luden zur Einkehr ein.
Fotos von der Kleinen Kirchgasse während der Abrissarbeiten. (www.döbeln.de)
Sieht man heute die „leeren“ Bereiche rechts und links der Kleinen Kirchgasse und bemerkt zudem die Hinterfronten der Gebäude von Obermarkt und Sattelstraße, dann ist das frühere Aussehen kaum noch vorstellbar! Nicht zu vergessen die Gebäude der Obermühle nördlich der Kirche, die heute einem Dornröschenschlaf verfallen sind. Diese Mahl- und Walkmühle gehörte schon im 15. Jahrhundert zum Schloss und später zur Stadt. Als Zeitzeugen bis heute erhalten geblieben sind die schönen Färberhäuser bei der Einmündung des Mühlgrabens, in denen die Stoffe der Walkmühle ihre Farbe erhielten und die Gebäude auf dem Oberwerder, einer Landzunge zwischen Mulde und Mühlgraben.
Anfang des 20. Jahrhunderts kam das markante Klinkerziegelhaus direkt an der Oberbrücke, am linken Anfang der Kirchgasse hinzu. Später verschwand an der Lutherplatzschule das Pahlitzsche Wohnhaus zwischen Schule und Gemeindehaus. Es entstand eine Verbindung zur Zwingerstraße.
Die große Zeit der Abrissbirne begann 1964. Während ein Jahr zuvor die uralten Gasthäuser auf dem Niedermarkt „Stadt Altenburg“ und „Alt Kulmbach“ verschwanden, war es 1964 in der Kleinen Kirchgasse aus mit dem „Heiteren Blick“. 1972 kam das Ende für die Feilenhauerei am Mühlgraben, wo heute noch ein kleiner Parkplatz ein tristes Bild liefert. In den Jahren 1985 und 1987 fallen die Häuser im vorderen Bereich, so das Drogerie-Eckhaus zur Ritterstraße. Ein Jahr später folgen das Haus Zwingerstraße 15 des ehemaligen Tuchmachermeisters Johann Gottlieb Clemen und die beiden Eckhäuser am südlichen Ende der Großen Kirchgasse gegenüber dem Lutherplatz.
Durch den letzten Abriss wurde übrigens das Gebäude des Reichssaales vom früheren „Sächsischen Hof“ auf dem Obermarkt sichtbar. So ist nun bei der Großen Kirchgasse die Südfassade des Alten Amthauses die einzige Bebauung auf jener Straßenseite! Nun fragt man sich: Was ist noch an Bausubstanz von früher stehen geblieben und was ist an den leeren Stellen neu hinzugekommen? Zu beiden Fragen kann man leider nur antworten: Nicht viel!
Die Hauptsache zuerst: St. Nicolai reckt weiterhin stolz ihren mächtigen Turm aus dem Döbelner Tal. Es stehen noch das Gemeindehaus und das Pfarramt, sowie Gebäude der Obermühle und das trutzige Eckhaus eingangs der Oberbrücke. Hinzugekommen sind zwei Geschäftshäuser auf der linken Seite stadtauswärts. Und nicht vergessen sei die in der heutigen Zeit wesentlich verbesserte Verkehrsführung in der Ost-West-Richtung. Am 6. Oktober 1989 wurde die neue Strecke im Verlauf von Zwingerstraße - Kleine Kirchgasse - Ritterstraße für den Verkehr freigegeben, gewissermaßen ein letztes Geschenk auf dem Geburtstagstisch der 40-jährigen DDR.
Doch auch durch den „baulichen Kahlschlag“ konnte das Problem der Flüssigkeit des Durchgangsverkehrs in der Kleinen Kirchgasse nicht verbessert werden, schmerzlich vor allem für die Kraftfahrer in der „Rush-Hour“.
Bleibt uns zu hoffen, dass wir wenigstens die Irritationen mit der Namensgebung zweier alter Straßen in Döbeln klären konnten!
Gerhard Heruth
"Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V.
Mitgliederinformation Nr. 25
Dezember 2003