Kriegsende 1945

  • Menschen am Scheideweg
  • Schicksalsstunden einer Stadt
  • Zeitzeugen erinnern sich

Fast könnte man zu der Einschätzung kommen, dass das Kriegsende in Döbeln relativ unspektakulär war. Kein Beschuss, keine Zerstörungen, bei der Befreiung der Stadt kommt niemand ums Leben. Eher eine geordnete Übergabe als ein finaler Endkampf. Dennoch waren diese Tage im April und Mai 1945 auch für Döbeln und die Döbelner eine Zeitenwende, eine „Stunde Null", ein Bruch im Leben, bei dem es ein Davor und ein Danach gab.

Ich möchte acht Menschen vorstellen, für die Döbeln seit ihrer Geburt Heimat oder für die Döbeln in diesen denkwürdigen Tagen vor genau 80 Jahren Zuflucht war. An ihnen wird, hoffe ich, deutlich, dass die Tage im April und Mai des Jahres 1945 für viele Deutsche schicksalhaft waren, für die einen sind sie der Anfang vom Ende, für andere die lange ersehnte Befreiung von einem abscheulichen Unterdrückungsregime und das Ende eines blutigen Krieges bisher ungesehenen Ausmaßes.

August Maus (1915-1996) - U-Bootkommandant, Kriegsgefangener

August Maus wohnt eigentlich in Großbauchlitz, Leipziger Straße 92. Am 06. Mai 1945 lebt er reichlich 15 Flugstunden von Döbeln entfernt, am anderen Ende der Welt. Seine Frau, die in Großbauchlitz auf ihn wartet, hat er fast zwei Jahre nicht gesehen.

Leipziger Straße 92
August Maus 1942

Der U-Bootkommandant sitzt im Kriegsgefangenenlager „Camp Papago Park" in Arizona im Südwesten der Vereinigten Staaten. 1942 wurde er Kommandant von U 185. Auf drei Feindfahrten im Mittel- und Südatlantik versenkte er neun Schiffe. Als unweit von ihm ein anderes deutsches U-Boot von einem amerikanischen Bomber angegriffen wird, schießt er das Flugzeug mit seiner Bordflak ab und rettet 22 Matrosen von U 604 aus dem kalten Wasser des Atlantiks. Maus erhält dafür das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes.

Kurz darauf gerät sein U-Boot am 24. August 1943 vor der Küste Brasiliens selbst unter Beschuss. Drei Aufklärungsflugzeuge des US-Geleitflugzeugträgers USS Core waren schneller da, als er abtauchen konnte. U 185 wird schwer getroffen und sinkt - 43 Matrosen sterben, 32 überleben und werden von dem amerikanischen Zerstörer „Barker" an Bord genommen, unter ihnen ist August Maus, der Kapitänleutnant aus Döbeln. Für ihn ist damit 1943 der Krieg zu Ende.

Untergang von U 185 am 24. August 1943
Sammlung National Museum of the United States Navy, Quelle: U.S. Navy photo
80-G-77196, Public domain

(1) August Maus als Gefangener der US Navy an Bord von USS Core
Sammlung National Museum of the United States Navy, U.S. Navy photo, Quelle:
80-G-77199, Public domain
(2) Captain M.R. Greer verhört August Maus an Bord von USS Core
Sammlung National Museum of the United States Navy, U.S. Navy photo, Quelle: 80-G-77200, Public domain

Zweimal will er aus dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager auszubrechen. Die Versuche bleiben erfolglos. Erst 1946 wird er aus der Gefangenschaft entlassen. Er kehrt nach Deutschland zurück, seine Heimatstadt liegt nunmehr in der sowjetischen Besatzungszone. Dorthin will er keinesfalls. Er beginnt ein neues Leben in Hamburg, wird hier ein erfolgreicher Geschäftsmann. Nach der Wende besucht er sein Haus in der Leipziger Straße 92 und erhält es von der städtischen Wohnungsgesellschaft DWVG zurück. August Maus stirbt 1996 in Hamburg.

Alexanderstraße 4

Dr. Werner Gruner (1904-1995) - Produktionsleiter, Erfinder des MG 42, vom NKWD zwangsrekrutierter Rüstungsexperte, Rektor der TU Dresden

Dr. Werner Gruners Haus steht auch in Großbauchlitz, nicht weit entfernt von dem der Familie Maus, aber am anderen Ende des Ortsteils in der Alexanderstraße 4. Die Russen kommen am 06. Mai 1945, als sie Döbeln besetzen, aus Richtung Zschepplitz. Sie biegen in die Grimmaische Straße ein, Gruner kann die Straße von seinem Haus aus gut einsehen. Der Tros von Armeefahrzeugen will kein Ende nehmen. Werner Gruner weiß, dass sein Schicksal ungewiss ist. Er muss mit dem Schlimmsten rechnen.

Metall- und Lackwarenfabrik Johannes Grossfuss, 1938 (Stadtarchiv Döbeln)

Gruner hat 1923 am Döbelner Gymnasium sein Abitur abgelegt, studierte und promovierte in Dresden und begann danach seine berufliche Laufbahn als Serienfertigungsspezialist beim Blechwarenhersteller Metall- und Lackwarenfabrik Johannes Großfuß in Döbeln. Die russischen Soldaten fahren am 06. Mai 1945 auf ihrem Weg zum Rathaus am Rotunda-Bau der Firma vorbei. Wahrscheinlich wussten sie da noch nicht, dass in dieser Fabrik das erfolgreichste Maschinengewehr der Wehrmacht entwickelt und hergestellt wurde.

Tausende sowjetische Soldaten sind durch die Waffe, die man „Hitler-Säge" nannte, umgekommen. Erfunden hat sie Werner Gruner. Ihm gelang als erstem Ingenieur die Massenfertigung eines Gewehrs im Blechprägeverfahren. Das MG 42 wurde im Wesentlichen aus Stanz- und Umformteilen hergestellt. So konnte die Waffe schnell, preiswert und in großen Mengen produziert werden. Technisch brillant. Die Wehrmacht schätzte Gruner.

Maschinengewehr MG 42 (Urheber: Phanatic, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)
Dr. Werner Gruner als Rektor der TU Dresden (Universitätsarchiv der TU Dresden, Fotoarchiv)

Seit 1939 ist er NSDAP-Mitglied, erhielt das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse und den Silbernen Dr.-Fritz-Todt-Preis. Er war der Produktionsleiter der Rüstungsfirma, die über 500 Zwangsarbeiter, darunter auch sowjetische Kriegsgefangene, beschäftigte. Gruner befürchtete, dass seine exponierte Rolle erkannt und mit ihm kurzer Prozess gemacht wird.

Es kam anders. Die Russen brachten ihn mit weiteren rund 2500 deutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren im Rahmen der „Aktion Ossoawiachim“ in die Sowjetunion. Sie waren an seinem Know-how im Waffenbau interessiert. Schon 1946 wohnte Gruner nicht mehr in der Alexanderstraße, sondern in Ischewsk, der Hauptstadt der udmurtischen autonomen Sowjetrepublik im Ural – 3600 km von Döbeln entfernt. Ein halbes Jahr herrschte hier Winter. Seine Frau und die drei Kinder mussten mit. Gruner war dankbar, dass er weiterleben durfte. 1952 genehmigte Moskau seine Rückkehr in die DDR. Hier angekommen, machte er immer wieder deutlich, dass er nunmehr treu an der Seite der Sowjetunion stehe, die er für das „modernste Land der Welt" hielt. Er wurde Professor für Maschinenbau an der TU Dresden, war von 1958 bis 1961 sogar Rektor derselben und übernahm 1969 die Leitung des Instituts für Landmaschinentechnik sowie die Direktion der Sektion für Kraftfahrzeug-, Land- u. Fördertechnik. Werner Gruner starb 1995 in Dresden.

Albert Wünsch (1908-1945) - Fleischermeister, Deserteur, Opfer einer Denunziation

Weniger Glück im Leben hatte Albert Wünsch. Der 37-jährige Fleischermeister aus der Grimmaischen Straße 44 in Kleinbauchlitz, glaubte im April 1945 nicht mehr an den Endsieg. Der stämmige Unteroffizier wollte überleben, er wollte nach Hause zu seiner Frau Minna und er wollte zu seinen zwei Kindern. Die brauchen ihren Vater, so dachte er, mehr als der Führer, der in Berlin in seinem Bunker saß und noch auf ein Wunder hoffte. Wünsch glaubte nicht an Wunder, er hielt es eher mit dem gesunden Menschenverstand und verlängerte eigenmächtig seinen Heimaturlaub.

Rechts im Bild die Grimmaische Straße 44 mit dem Ladengeschäft, das zur Fleischerei gehörte. Im Haus links (Grimmaische Straße 46) arbeitet in einer Nebenstelle der Döbelner Polizei Willi Baatz.
Nicht weit entfernt, in der Grimmaischen Straße 24, wohnte die Familie Baatz.

Womit er nicht gerechnet hatte, war die Missgunst eines Nachbarn. Eigentlich war die Familie Wünsch mit der Familie Baatz, die in der Grimmaischen Straße 24 wohnte, befreundet. Aber Willi Baatz, Hauptwachtmeister der Döbelner Polizei, die im Haus Grimmaische Straße 46 einen Außenposten unterhielt, ärgerte sich darüber, dass Wünsch zuhause war und seine beiden Söhne noch im Felde standen. So ungerecht kann es nicht zugehen, dachte er sich und rief mehrfach beim Wehrbezirkskommando an, ob denn dieser Albert Wünsch wirklich Urlaub hätte. Das waren keine Anrufe eines besorgten Beamten, das waren Anrufe eines Denunzianten. Baatz löste damit etwas aus, was er am Ende nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das Blut eines Freundes klebte an seinen Händen.

Grabstelle der Familie Wünsch auf den Niederfriedhof

Schnell war nämlich klar, dass Wünsch keinen Urlaub hatte. Er wurde am 21. April 1945, 14 Uhr in die Döbelner Kaserne gebracht und sollte als Deserteur eigentlich in eine Arrestanstalt überführt werden. Als das Auto vom Kasernenhof fahren wollte, traf es allerdings auf den Döbelner Kampfkommandanten Adler, der es anhielt und kurzerhand erklärte: „Das ist ein Döbelner, der bleibt hier, den brauchen wir als abschreckendes Beispiel, der wird hier erschossen." Danach ging alles schnell: Standgericht - Todesurteilung - Erschießung am 23. April 1945 an den Schießständen in den Klostergärten, wo man auch seine Leiche verscharrte.

Monate später veranlasste Minna Wünsch eine Umbettung auf den Niederfriedhof, wo ihr Mann seine letzte Ruhe fand.

Außenstelle des Kreiskrankenhauses Leisnig in Technitz

Willi Baatz (1884-1949) - ehemaliger Berufssoldat, Polizist, Denunziant, Strafgefangener

Was Polizeiwachtmeister Willi Baatz empfand, als er hörte, was seine Anrufe angerichtet hatten, wissen wir nicht. Sollte er Genugtuung verspürt haben, war die von kurzer Dauer. Baatz wurde am 25. Juni 1947 vom Schwurgericht Freiberg „wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit" zu zwei Jahre Zuchthaus und drei Jahre Ehrverlust verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in den Zuchthäusern Zwickau und Hoheneck. Am 24. Dezember 1948 wurde er entlassen, weil man ihm die Untersuchungshaft anrechnete. Er starb am 10. Juni 1949, ungefähr vier Jahre nach Albert Wünsch, im Bezirkskrankenhaus Leisnig, Außenstelle Technitz an Lungentuberkulose.

Erhardt Tümmler (1889-1947) - Fabrikant, Wehrwirtschaftsführer, „Nazi- und Kriegsverbrecher", NKWD-Opfer

Erhardt Tümmlers Absturz erfolgte aus großer Höhe. Er galt als der ungekrönte König von Döbeln, war Inhaber und Geschäftsführer des größten Industriebetriebes der Stadt. Die Metallwarenfabrik Tümmler hatte sich mit Möbelbeschlägen und als Zulieferer der Automobilindustrie einen Namen gemacht. Tümmler beschäftigte fast 2000 Mitarbeiter, wohnte in einer Villa, hatte gleich neben der Fabrik ein privates Schwimmbad und einen Tennisplatz errichten lassen, besaß ein Ferienhaus in Tirol und eins im Erzgebirge, seiner Frau Margarete, einer Schauspielerin, kaufte er in Hamburg-Othmarschen eine Villa mit Elbblick und großem Parkgrundstück. Die Hochzeitsreise 1926 ging mit einem Luxusdampfer nach Süd- und Nordamerika.

Die Metallwarenfabrik Robert Tümmlers war ein kleiner Stadtteil für sich. Sie erstreckte sich zwischen Mulde und Schillerstraße vom Körnerplatz bis zur heutigen Straße des Friedens.

Tümmler war gut vernetzt. Als Reichskanzler Heinrich Brüning 1931 während einer Zugfahrt von Chemnitz nach Leipzig fünf sächsische Industrielle empfing, war Tümmler mit dabei. Nach der Machtergreifung Hitlers lief es geschäftlich noch besser. Tümmler stellte auf Rüstungsgüter um, war schon bald einer der größten Produzenten von Panzerfäusten. Auch kommunalpolitisch hatte sich alles gut gefügt, für NSDAP-Kreisleiter Rehfeld kaufte er ein Häuschen in den Klostergärten. Der revanchierte sich später mit der Zuweisung von über 100 sowjetische Kriegsgefangenen sowie 500 Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen. Tümmler wurde im November 1942 einer der ersten Wehrwirtschaftsführer Sachsens. Als solcher wollte er sich bewähren - bis zum Schluss.

Kameradentreffen der Firma Tümmler Weihnachten 1941 - mittig der Inhaber der Firma Erhardt Tümmler (Stadtarchiv Döbeln)
4 Panzerfäuste 30 im Originaletui, ausgestellt im Militärmuseum Helsinki. (Urheber: Balcer, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Mitte April 1945 gab General Schöner, Chef der Heeresgruppe Mitte, den Befehl, alle Produktionsanlagen der Fa. Tümmler zur Herstellung von Panzerfäusten in den Sudentengau nach Teplitz zu verlagern. Die Döbelner Metallwarenfabrik war in den letzten Kriegswochen die einzige Firma reichsweit, die noch große Mengen von Panzerfäusten mit Zündern herstellen und liefern konnte. Trotz der schon chaotischen Zustände schaffte es Tümmler, Maschinen und Personal per Zug nach Teplitz zu transportieren. Kaum waren die Maschinen dort aufgestellt, wurde für Teplitz allerdings die sog. „Lähmungsaktion" angeordnet, weil die Russen Richtung Erzgebirge vorstießen. Tümmler schlug sich mit seiner Frau und der Familie seines Fahrers Falke zu Fuß nach Döbeln durch. Die Gruppe war zwei Tage unterwegs.

Hier angekommen, wurde Erhardt Tümmler verhaftet und ins Gefängnis nach Bautzen gebracht. Sein Schicksal schien besiegelt, er war ein gesuchter Nazi- und Kriegsverbrecher. Dann passiert etwas Unerklärliches. Irrtümlich wird der Wehrwirtschaftsführer aus der Haft entlassen.

Er lebte danach monatelang unbehelligt in Döbeln, ließ sich Schnur- und Spitzbart wachsen und wohnte mit seiner Frau im herrschaftlichen Haus der Schwägerin in der heutigen Str. d. Friedens 19, dem Haus, das heute als Musikschule genutzt wird. Dass man seine Villa in der Schillerstraße zum Kindergarten umfunktioniert, das private Schwimmbad und den Tennisplatz als Symbole kapitalistischer Prunksucht zugeschüttet hatte, war ärgerlich. Aber, was die Firma betraf, machte er sich immer noch Hoffnung. Die schwand allerdings, als er von seinem neuen Wohnort aus beobachtete, wie alle Maschinen seiner Fabrik mit Lastern über die Thielestraße zum Güterbahnhof-Ost gefahren und als Reparationsgut für den Wiederaufbau der sowjetischen Industrie verladen wurden.

(1) Villa der Familie Tümmler in der heutigen Straße des Friedens 19 (2) Einmündung Thielestraße zum ehemaligen Güterbahnhof Ost

Tümmler, den vor kurzem noch alle ehrfürchtig behandelt hatten, merkte, dass ihn seine Freunde und Mitarbeiter mieden. Die Direktoren seiner Fabrik behaupteten, sie wären nur kaufmännische Angestellte gewesen, sein Diener Friedrich, die „treue Seele" und sein Bursche im Ersten Weltkrieg, den er hatte ausbilden und anlässlich seiner Hochzeit ausstatten lassen, bezeichnete ihn als Ausbeuter und Herrenmenschen.

Tümmler selbst dachte, dass seine Entlassung aus der Bautzner Haft bedeutet, dass die neuen Machthaber ihn für unschuldig halten. Eine grandiose Fehleinschätzung. Er wurde erneut verhaftet und unter widrigen Bedingungen ins Döbelner Gefängnis gesteckt. Wieder wird er entlassen. Nun macht seine Frau Druck. Sie spürt die Lebensgefahr und plant die Flucht aus Döbeln über die „grüne Grenze" in den Westen. Falke, der treue Fahrer, hatte einen alten Lastwagen organisiert und wollte die Tümmlers in die Nähe eines wenig bewachten Grenzübergangs bringen, von wo aus sie zu Fuß die rettende britische Zone hätten erreichen können. Noch waren genügend Wertsachen da, mit denen man sich ein neues Leben hätte aufbauen können.

Ausschnitt aus einer Gedenktafel für die Opfer des sowjetischen Lagers in Mühlberg

Abfahrt an einem nebligen Herbstabend - man erreicht die Stelle, an der der Fußmarsch beginnen sollte. Erhardt Tümmler trifft hier die größte Fehlentscheidung seines Lebens. Er sagt zu seinem Fahrer: „Falke, wir fahren nach Döbeln. Ich desertiere nicht. Ein Kapitän darf das sinkende Schiff nicht verlassen." Seine Frau denkt, sie habe sich verhört hat, beschwört ihn, seine heldenhafte Pose aufzugeben, der Führer habe das Volk verraten, er sei keinem mehr Treue schuldig. Weinend versucht sie, ihn umzustimmen. Es half nichts. Sie fuhren nach Döbeln zurück.

Wenige Tage später wird Erhardt Tümmler in Döbeln vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und in das NKWD-Lager Mühlberg an der Elbe gebracht. Mit seiner Gesundheit geht es schnell bergab. Januar 1947: Durchbruch eines Magengeschwürs, Mitgefangene trommeln an die Barackentür und verlangen einen Arzt. Der russische Wachposten bleibt entspannt. Am Morgen war Tümmler an inneren Blutungen gestorben. Seine Leiche vergräbt man irgendwo in der Nähe des Lagers, ohne Kreuz, ohne Stein, ohne Inschrift. Erhardt Tümmler wurde 58 Jahre alt.

Ehemaliger Standort - Zwingerstraße 18 - Das Haus wurde abgerissen.

Hannelore Renner (1933-2001) - Gymnasiastin, Sanitätshelferin, Kriegsopfer, später Kanzlergattin

Hannelore Renner ist im Mai 1945 12 Jahre alt. Sie wohnte mir ihrer Mutter in der Zwingerstraße 18 und besuchte seit dem Februar 1944 das Döbelner Gymnasium. Hier hat sie die Hauptbuch-Nr. 6642. Eigentlich stammt Hannelore aus Leipzig. Nach dem verheerenden Bombenangriff auf die Messestadt im Dezember 1943 schickte ihr Vater Wilhelm Renner, Wehrwirtschaftsführer und Leiter einer der größten Rüstungsfabriken des Reichs, der Leipziger HASAG, seine Frau und seine Tochter nach Döbeln, weil es hier sicherer ist. Frau Renner wurde in Döbeln kriegsverpflichtet und arbeitete als ungelernte Hilfskraft in Akkordarbeit halbtags bei Grossfuß. Hannelore machte täglich nach Schulschluss in der Kantine der Fabrik Küchendienst, schrubbte Tische und Stühle und räumte auf - Entgelt: ein warmes Kantinenessen.

Döbeln war ein Eisenbahnknotenpunkt. Die Schüler versorgten Flüchtlinge und Verwundete aus dem Osten mit Getränken und brachten sie in bereitgestellte Notquartiere am Sternplatz. Sie sahen dabei Grausamkeiten, auf die sie nicht vorbereitet waren - offene Flüchtlingszüge, in denen sich Mütter an erfrorene Kinder klammern, grausam verstümmelte Soldaten, mehr tot als lebendig. Hannelore hatte bereits bei Bombenangriffen in Leipzig erste Tote gesehen, was sie auf dem Döbelner Bahnhof sah, überstieg ihre Vorstellungskraft. Später sagt sie: „Das Wort Krieg ist für uns die konkrete Sache unserer Generation. Das sind Bombennächte, das ist [Tieffliegerbeschuss] auf dem Schulweg, Liegen auf einer Brücke, wenn man nicht weiß wohin, und die Garben schlagen um einen herum ein. Das ist Hunger, das ist die Flucht, das ist das Elend der anderen, und es ist eine Art von Ohnmacht gegenüber einer Gewalt, die man eigentlich nicht begreift, das sind Soldaten, die man aus dem Bekanntenkreis kennt, die dann als tot gemeldet werden, das kann man nicht begreifen als Kind." (Hannelore Kohl 1987 in einem Interview)

Hannelore Kohl als junge Frau (Quelle: Film "Hannelore Kohl - Die erste Frau", Copyright "Bild: NDR/Helmut R. Schulze")

Am 5. Mai 1945 machten sich Mutter und Tochter auf den Weg nach Westen. Sie hatten Angst vor den anrückenden russischen Soldaten und wollten zu Verwandtschaft des Vaters nach Rheinland-Pfalz. Irgendwo auf dem Weg, es kann nicht weit von Döbeln entfernt gewesen sein, wurde die Zwölfjährige von russischen Soldaten aufgegriffen und mehrfach vergewaltigt. Hannelore trug dabei neben der seelischen Wunde auch eine schwere Wirbelverletzung davon, die sie Zeit ihres Lebens quälen sollte. Ein Freund der Familie, dem sie sich später anvertraute, berichtet, das Mädchen sei bei der Vergewaltigung auf einem Stein zu liegen gekommen, der einen Wirbel gequetscht habe. Sie sei von den Soldaten "wie ein Zementsack" aus einem Fenster geworfen worden. Die Vergewaltigung wird für das Mädchen zum lebenslangen Trauma. Schon der Geruch von Männerschweiß, Knoblauch und Alkohol, so berichtete sie noch Jahrzehnte danach, konnte in ihr die Erinnerung wecken, manchmal reichte der Klang russischer Stimmen.

Bei einem Klassenfest in Ludwigshafen lernte Hannelore Renner 1948 im Alter von fünfzehn Jahren den achtzehnjährigen Helmut Kohl kennen, den sie nach zwölf Jahren Bekanntschaft am 27. Juni 1960 heiratete". Als Kanzlergattin verspottete man sie oft als das "blondes Dummchen", als "Barbie aus der Pfalz", die „biedere Hausfrau mit der Betonfrisur“. Während ihr Mann die Feindseligkeiten scheinbar ungerührt ertrug, zog sie sich immer mehr ins Private zurück. Ließen sich öffentliche Auftritte nicht vermeiden oder wurden sie von ihrem Mann gewünscht, wie beim jährlichen Urlaub am Wolfgangsee, versuchte sie unter allen Umständen Disziplin zu wahren. Zähne zusammenbeißen, so hatte sie es als Kind gelernt.

Bevor sich Hannelore Kohl am 05. Juli 2001 das Leben nahm, litt sie viele Jahre an einer „Lichtallergie", verließ das Haus nur noch nachts. Über ihre Lebensgeschichte, ihre Kindheit im Krieg und die traumatischen Erlebnisse während ihrer die Flucht redete sie nicht gern. Sie wollte nicht wieder zurückkehren zu diesen Maitagen 1945 - auch nicht gedanklich. Niemals.

Bahnhofstraße 73

Ruth Glasberg (1924-2008) - jüdisches Opfer der NS-Rassenpolitik, Vollwaise, Exilantin, displaced person

Als der 12-jährigen Hannelore Renner hier Schreckliches widerfuhr, lebte die 21-jährige Ruth Glasberg in Schweden. Sie wurde als eines von drei Kindern der jüdischen Familie Samuel und Sali Glasberg 1924 in Döbeln geboren und wuchs in der Bahnhofstraße 73 auf. Ihre Eltern hatten in der Theaterstraße einen Rohprodukthandel und starben früh. Die drei Kinder Max, Karl und Ruth Glasberg waren 1934 Vollwaisen und wurden von ihrem Onkel Dr. David Gutherz, dem Bruder ihrer Mutter, adoptiert. Trotz der privaten Tragödie verlief ihr Leben in geordneten Bahnen.

Max (*1920), Karl (*1922) und Ruth Glasberg (*1924) im Jahr 1926

Bis der 25. Mai 1938 für Ruth zu einem Schicksalstag wurde. Der damalige Rektor des Gymnasiums Gottfried Klemm relegierte sie und ihren Bruder Max von der Schule. Begründung: Juden dürfen keine deutsche Schule besuchen. Kein Ruhmesblatt für das Gymnasium - es war nicht die Umsetzung antisemitischer Reichsgesetze, sondern die private Initiative des SA-Obersturmbannführers Klemm, der dem Schulamt stolz meldetet, dass seine Schule jetzt judenfrei wäre. Ruth, damals 14, folgte ihren Pflegeeltern nach Berlin. Die hatten Döbeln schon kurz vorher verlassen, weil das Klima der Denunziation und Hetze in der Kleinstadt für sie unerträglich geworden war. Nur noch selten besuchen die drei Glasberg-Kinder ihre Tante Marie Rothstein, die in Döbeln verblieben war. Zuletzt 1939.

Max, Ruth und Karl Glasberg in Döbeln (1939)

Auch in Berlin wurde es schnell gefährlich - Ruths Bruder Max ermordet die SS 1940 im KZ Sachsenhausen. Familie Gutherz entscheidet kurz darauf, ihre Pflegetochter der Aktion „Rettet die Kinder" anzuvertrauen. Verschiedene europäische Länder wollten zwar keine jüdischen Flüchtlinge im Land, ein paar Kinder als moralisches Feigenblatt konnte man sich allerdings vorstellen. Das beruhigte das eigene Gewissen. Ruth landete in Schweden. Die ambitionierte Gymnasiastin musste sich für eine Ausbildung entscheiden: zur Wahl standen Haushälterin, Friseuse oder Näherin. Ihr Leben in Schweden empfand die 15jährige als trostlos, in Briefen macht sie ihren Pflegeeltern Vorwürfe, nicht wissend, dass diese in Berlin auf ihre Deportation nach Auschwitz warten.

Als der Krieg zu Ende ist, möchte Ruth nur noch eines - zurück nach Döbeln, den Ort ihrer Kindheit. Durch einen Brief ihrer Tante erfährt sie, dass ihr zweiter Bruder Karl und ihr Pflegevater David Gutherz in Auschwitz umgebracht wurden und ihre Pflegemutter Helene Gutherz sich vor der Deportation das Leben nahm. Neben einer Tante ist sie die einzige Überlebende der Großfamilie.

Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt Döbeln vom 08.03.1950

Ruth Glasberg lebt zu diesem Zeitpunkt schon sechs Jahre in ärmlichen Verhältnissen in Schweden. Die 21-jährige möchte im Mai 1945 wieder nach Hause. Sie ist so verzweifelt, dass sie sich wünscht, sie hätte das Schicksal ihrer Familie teilen können, „denn wie ich hier ganz alleine lebe, ist ein sehr schmerzhafter, quälender und langsamer Selbstmord." Sie weiß zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass ihre Heimkehr eine quälende Odyssee wird.

1946 gelingt ihr die Ausreise - aber nicht nach Deutschland - sie schafft es nur bis nach Prag. Hier wartet sie auf eine Einreisegenehmigung vom „Döbelner Amt für Umsiedlung". Dann kommt alles Schlechte zusammen: die Russen genehmigen ihre Einreise nicht, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft hat. Sie ist zwar in Döbeln geboren, hat aber nur die polnische Staatsbürgerschaft ihrer Eltern, gilt nun als Staatenlose, als „displaced person". 1947 erkrankt Ruth Glasberg in Prag lebensbedrohlich an Diphterie. Ihre Aufenthaltsgenehmigung für die Tschechoslowakische Republik läuft ab. Ihr droht die Abschiebung nach Polen, einem Land, das sie noch nie in ihrem Leben betreten hat. In ihrer Verzweiflung reist sie illegal nach Deutschland ein, wird aufgegriffen und im Flüchtlingslager Regensburg interniert. In Frankfurt a.M. entscheidet man, sie nach Schweden abzuschieben. So geschieht es.

Erst als die Alliierten 1949 die Verwaltungshoheit auf die deutschen Behör-den übertragen, wird die Einreise möglich. Ruth Glasberg schafft jetzt das, was sie jahrelang vergeblich versucht hat. Der Döbelner Stadtrat genehmigt ihr am 08. März 1950 einen vierwöchigen Aufenthalt zur Klärung von Familienangelegenheiten.

Fotos von Ruth, Joachim und Monica Grasshoff (1950er Jahre)

Viele Döbelner erkennen Ruth Glasberg wieder, als sie in diesen Tagen durch die Stadt geht, viele wissen von dem, was ihr und ihrer Familie widerfuhr. Nur ein einziger spricht sie daraufhin an, äußert Bedauern und Mitgefühl, die anderen schweigen, sie schauen weg, wenn sie der jungen Frau begegnen. Ich habe Ruth Glasberg 1999 kennengelernt. Wir haben auch über diesen denkwürdigen Döbeln-Aufenthalt gesprochen. Sie hielt nichts von einer Kollektivschuld der Deutschen, dennoch war es gerade die Mauer des Schweigens, die Sprachlosigkeit der Döbelner, die sie nach dem Krieg erschüttert haben.

Aber 1950 gab es nicht nur die Trauer über das verlorene Glück ihrer unbeschwerten Kindheit. Im Döbelner Krankenhaus lernt Ruth Glasberg den Arzt Joachim Grasshoff kennen. Sie heiraten Wochen später in Berlin und wandern am 08. September 1950 nach Schweden aus. Hier wird ihre Tochter Monica geboren. Über das Schicksal ihrer Familie, über ihre eigene Geschichte wird Ruth 50 Jahre nicht sprechen, auch nicht mit ihrer Tochter. Die erfährt von der Familiengeschichte ihrer Mutter durch eine Projektarbeit, die am Lessing-Gymnasium Döbeln entstand.

Herbert Näcke (1892-1952) - Elektrowarenhändler, Freimaurer, 1945 Verhandlungsführer bei der kampflosen Übergabe der Stadt

Herbert Näcke hätte sich am 06. Mai 1945 eigentlich gar nicht in Döbeln aufhalten dürfen. Er wurde am 20. April 1945 als „letztes Aufgebot" zum Volkssturm einberufen. Wegen einer Zahnentzündung erhielt er von seinem Vorgesetzten kurzzeitig Urlaub.

Werbeanzeige 1930er Jahre

Näcke, 1892 als Sohn eines Bäckermeisters in Döbeln geboren, ging hier zur Schule, machte hier eine Ausbildung zum Elektromechaniker, heiratete hier seine Frau Maria, arbeitet hier beim Städtischen Betriebsamt und eröffnete 1922 auf dem Obermarkt ein Elektrowarengeschäft. Sein Leben war untrennbar mit Döbeln verbunden.

(1) Links gut zu erkennen - das Elektro-Haus Herbert Näcke. (2) Heute findet man im Haus Obermarkt Nr. 6 eine Filiale von "Ernsting's family" und die Geschäfte "Kleeblatt-Moden" und "Family Schuh".

Herbert Näcke mit seiner Frau Emma Lina, geb. Pönitz und den Söhnen Horst und Werner (um 1930)

(1) Herbert Näcke mit Frau und Söhnen im Kleingarten zwischen Zwingerstraße und Meyers Hof, um 1930 (Fotos Fam. Pönitz privat) (2) Blick von der Zwingerstraße Richtung Fronstraße ähnliche Perspektive 2025

Herbert Näcke spürte, dass es an diesem 06. Mai für Döbeln um alles geht. Das Schicksal dieser Stadt stand auf der Kippe. Trotz der geballten Übermacht der Roten Armee hatte die örtliche Obrigkeit der NSDAP Widerstand befohlen. Die Herren selbst, NSDAP-Kreisleiter Rehfeld, Kampfkommandant Adler und Oberbürgermeister Gottschalk waren, als es brenzlich wurde, schon auf der Flucht.

Herbert Näcke hatte, ein Glückfall für Döbeln, Distanz zum Regime, ließ sich von der Naziideologie nie anstecken. Der Freimaurer saß bereits 1933 kurzzeitig in Schutzhaft und wurde von allen Berufsämtern entbunden. Nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad gründete er eine antifaschistische Widerstandsgruppe. Nichts Großes - man hörte Radio BBC und verbreitet ab und an Flugblätter. Näcke kannte das Risiko. Es nahm es in Kauf. Seine beiden Söhne Horst und Werner mussten in den Krieg ziehen, beide galten seit längerem als vermisst. Der Vater ahnte, was das bedeutet. Er wollte jetzt etwas tun, auch für seine Jungs, damit der Wahnsinn ein Ende findet.

Die sowjetischen Truppen sammelten sich am 06. Mai 1945 in Zschepplitz und bauten schon die Artillerie auf. Volkssturmmänner hatten am Fuß des Leipziger Berges und in der Grimmaischen Straße Panzersperren errichtet.

Näcke erkannte, dass er jetzt schnell handeln muss und fuhr mit seinem Motorrad nach Großbauchlitz in Richtung der vorrückenden Roten Armee. Er beschwor die Anwohner, dass sie die Panzersperren öffnen müssen, weil er wusste, dass sich die Russen sonst den Weg freischießen werden.

(1) Panzersperre an Gasthof Großbauchlitz, Mai 1945 (Foto: Detlev Bleicher privat) (2) Foto aus ähnlicher Perspektive, Mai 2025

(1) Panzersperre Grimmaische Straße, Mai 1945 (Foto: Detlev Bleicher privat) (2) Foto aus ähnlicher Perspektive, Mai 2025

Ein sowjetischer Dolmetscher brachte ihn zum Abschnittskommandanten. Näcke stellte sich als Anführer des antifaschistischen Widerstands in Döbeln vor und zeigte ihm die Flugblätter, die er zuletzt verbreitet hatte. Er bat den sowjetischen Kommandanten, Döbeln nicht anzugreifen. Der fragte ihn, ob er garantieren könne, dass sie auf der Fahrt zum Döbelner Rathaus nicht beschossen werden.

Näcke ist verzweifelt, weil er das nicht kann und macht folgenden Vorschlag: „Ich fahre mit dem Motorrad in jeder von Ihnen gewünschten Entfernung als Parlamentär mit der weißen Fahne voraus. Sollte Beschuss einsetzen, so bin ich ihm als erster ausgesetzt." Der Kommandant lehnte ab und entschied, dass er mit im offenen Geländewagen der sowjetischen Offiziere Platz nehmen soll. Näcke wusste, dass das so oder so ausgehen kann. In einem offenen Geländewagen gemeinsam mit sowjetischen Offizieren war man unter Umständen eine Zielscheibe. In Hartha hatte der Werwolf den Fabrikanten Arthur Möbius für viel weniger erschossen. Er hatte seinem Ärger über den sinnlosen Widerstand Luft gemacht.

Näcke zögerte kurz, die russischen Offiziere wurden unruhig - er muss es riskieren. Gemeinsam fahren sie in die Stadt - Grimmaische Straße – Bahnhofstraße. Näcke schreibt später in seinen Erinnerungen: „Wie ein Lauffeuer ging es durch die Häuser: Die Russen sind da! Fenster wurden aufgerissen, erschrockene Frauen beugten sich heraus, aber dann begannen sie ebenfalls, uns stürmisch nachzuwinken. Wir fuhren weiter, über den Niedermarkt und durch die Fronstraße bis vor das Rathaus, wo wir neben dem Schlegelbrunnen haltmachten.“

Döbelner Rathaus wird zur sowjetischen Stadtkommandantur (Foto vom 01. Mai 1946)

Im Zimmer 7 des Rathauses beginnen die Verhandlungen. Der sowjetische Kommandant gibt eine erste Verordnung heraus, die Druckerei Thallwitz druckt sie. Stadtrat Röher und Näcke sollen kommissarisch die Verwaltung Döbelns übernehmen.

Andere Akteure kommen ins Spiel: Der Kommunist Karl Krötel leitet die Beräumung von Panzersperren an der Dresdner Straße, Ziegelstraße, Oschatzer Straße, Kaufmann Paul Friedrich an der Leipziger Straße. Die Döbelner werden aufgefordert, weiße Tücher in die Fenster zu hängen. Krötel ging mit einigen Anwohnern auf die Oberbrücke, um der einrückenden Roten Armee deutlich zu machen, dass diese nicht vermint ist. Eine 10-Zentner-Bombe auf der Brücke Bismarckstraße, heute Rosa-Luxemburg-Straße, war in der Zwischenzeit schon entschärft worden. Sie sollte die Brücke und das nahegelegene Gaswerk in die Luft jagen.

14.30 Uhr rollen am 06. Mai 1945 Truppen der 1. Ukrainischen Front kampflos ein. Döbeln ist eine der wenigen Kleinstädte in Sachsen, die fast ohne Zerstörungen bleibt und deshalb nach dem Krieg auch „Goldene Stadt" genannt wird. Es gibt in den folgenden Tagen Vergewaltigungen und Plünderungen durch Rotarmisten, aber auch Bemühungen der Offiziere, die Truppe zu disziplinieren. Die Angst in der Bevölkerung ist riesig, ganze Familien scheiden freiwillig aus dem Leben.

Herbert Näcke (um 1950)

Als am 22. Mai1945 der erste Magistrat unter Bürgermeister Kurt Birnbaum gewählt wurde, übernahm Näcke das Amt des Rates für Handwerk und Gewerbe. 1945/46 engagiert sich das SPD-Mitglied im Stadtrat. 1946 findet in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED statt. Näcke hat auch in der neuen Zeit seinen eigenen Kopf. 1948 wird er im Rahmen einer Säuberungsaktion aus der SED ausgeschlossen

Er starb am 12. September 1952 mit 58 Jahren an einem Schlaganfall.

Foyer Lessing-Gymnasium

"Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind." (Lessing)

Im Foyer meiner Schule hängt seit 1947, in diesem Jahr wurde das Gymnasium aus guten Gründen nach Lessing benannt, ein Spruch des Namensgebers. Er lautet: „Ohne die Geschichte bleibt man ein unerfahrenes Kind." Die Aussage suggeriert, dass Menschen lernfähig sind und dass man aus den Erfahrungen der Geschichte Lehren ziehen kann, um es in der Gegenwart und Zukunft besser zu machen. Ich bin mir nicht so sicher, ob dieser Optimismus Lessings angebracht ist, aber als Lehrer sollte man ja in jedem Fall Optimist sein. Manche sehen darin eine Berufskrankheit, ich ein gutes Überlebensrezept. Wenn es denn also so wäre, dass wir etwas aus der Geschichte lernen können - 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, für Döbeln ja wirklich heute auf den Tag genau, was könnte das sein?

  • Krieg ist die schlimmste Geisel der Menschheit. Da sind wir uns schnell einig. Wie kann man Krieg verhindern? Pazifismus ist eine ehrenwerte Haltung. Nicht immer hilft sie weiter. Gerade die Geschichte des Zweiten Weltkrieges hat gezeigt, dass Appeasement-Politik als Brandbeschleuniger wirken kann. Die Alliierten verletzten auf der Münchner Konferenz 1938 die territoriale Integrität der Tschechoslowakei. Man gab Hitler die sudetendeutschen Gebiete, um ihn zu beschwichtigten. Der fühlte sich allerdings eher ermutigt. Der Rest ist bekannt: Anschluss der sog. Rest-Tschechei, mit dem Überfall auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Der Gefreite aus Braunau entwickelte nach München Weltmachtphantasien.
  • Wer beim Stichwort Europa nur an die Verordnungswut Brüssels beim Krümmungsgrad der Salatgurke denkt, springt zu kurz. Man kann sich sicher über die Ausgestaltung eines geeinten Europas streiten. Fakt ist: Europa war und ist ein Friedensprojekt. Aus der Erzfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich wurde eine Freundschaft mit Städtepartnerschaften und Schüleraustauschbegegnungen, auch hier in Döbeln.
  • Antisemitismus und jeder anderen Spielart des Rassismus, auch der Ausgrenzung von Minderheiten, muss man entgegentreten. Das ist ein Gebot des Anstands. Es gibt einen Talmud-Spruch, den ich in diesem Zusammenhang gut finde:

Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten.
Achte auf Deine Worte, denn Sie werden zu Handlungen.
Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter.
Achte auf Deinen Charakter, denn er wird Dein Schicksal.

Viele Generationen vor uns haben viel Kraft, Zeit und auch Liebe in die Entwicklung der Stadt Döbeln gesteckt. Einige haben in Krisen- und Kriegszeiten Verantwortung übernommen, haben sogar ihr Leben riskiert, damit diese Stadt eine gute Zukunft hat. Nehmen wir uns an diesen Menschen ein Beispiel und versuchen wir im Kleinen und im Großen so zu handeln, dass es dieser Stadt mit seiner wechselvollen Geschichte zur Ehre gereicht.

© Michael Höhme, "Traditions- und Förderverein Lessing-Gymnasium Döbeln" e.V. (06.05.2025)

Quellen:
Dörr, Manfred: Die Ritterkreuzträger der U-Boot-Waffe 1939–1945 Band II, S. 104–106.
Verfasser unbekannt: August Maus (Wikipedia-Artikel) URL: https://de.wikipedia.org/wiki/August_Maus (27.04.2025)
Busch, Rainer / Röll, Hans-Joachim: Der U-Boot-Krieg 1939-1945, Bd.1, Die deutschen U-Boot-Kommandanten. Bonn 1996
Verfasser unbekannt: MG-42 (Wikipedia-Artikel) URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Maschinengewehr_42, (27.04.2025)
Kramper, Gernot: Das MG 42 wurde "Hitler-Säge" genannt – und war von den Alliierten gefürchtet. STERN-online, 30.04.2024. URL: https://www.stern.de/digital/technik/mg-42--wieso-die-alliierten-die-toedliche--hitler-saege--fuerchteten-34567064.html (27.04.2025)
Roßmann, Felix: MG 42 brachte 10 Mio. Mark Jahresgewinn. Leipziger Volkszeitung, 13.06.1946
Kuntsche, Siegfried / Fraunholz, Uwe: Gruner, Werner. In: Wer war wer in der DDR?, Band 1., Berlin 2010
Müller, Oskar: Fünf Jahre im Land des Sozialismus. Leipziger Volkszeitung, 14.07.1952
Staatsarchiv Chemnitz, Bestand „30068 Gefangenenanstalt Hoheneck“, Gefangenenakte Nr. 9184 zu Willi Baatz
Sanden, Hans H.: Der Makel: Eine Jugend zwischen Rassen und Klassen. Heidelberg 1990
Bauch, Charlotte: Entstehen und Ende der Tümmler-Werke. Sachsen-Kurier 31.07.1993
Görtz, Armin: Jahrhundert der Familie - Familie Tümmler (10 Artikel) In: Sachsen-Kurier 1994/95
Spitzner, Sophie: Rüstungsindustrie und Kriegswirtschaft im Muldental – Aufbau und Entwicklung bis zum Kriegsende. Roßwein 2014 (unveröffentlicht)
Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (Hg.): Hannelore Kohl (geb. Renner). URL: https://www.bundeskanzler-helmut-kohl.de/personen-1/hannelore-kohl/ (27.04.2025)
Fleischhauer, Jan: Sehnsucht nach dem Ende. SPIEGEL online, 11.06.2011. URL: https://www.spiegel.de/spiegel/a-767938.html (27.04.2025)
Schwan, Heribert: Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl. München 2011
Thadden, Elisabeth von: Die Perfektionistin. Das Leben und Sterben der Hannelore Kohl. In: Die Zeit. Nr. 10/2002
Höhme, Sebastian: Zum Beispiel die Glasbergs. Lessing-Gymnasium Döbeln 2006 (unveröffentlichtes Manuskript)
Näcke, Herbert: Schicksalsstunden einer Stadt. Manuskript Stadtarchiv Döbeln (online verfügbar unter nebenstehender Registerkarte)

Bildnachweis:
Alle Abbildungen/Fotos ohne Vermerk stammen aus der „Sammlung Döbeln“ von Michael Höhme.













Herbert Näcke - Biografisches

Herbert Näcke (1892-1952)
  • Herbert Näcke wurde am 24. April 1892 als Sohn des Bäckermeisters Friedrich August Näcke in Döbeln geboren.
  • Nach dem Besuch der Bürgerschule erlernte er das Elektromechaniker- und Schlosserhandwerk in der elektrotechnischen Fabrik Otto & Geyer.
  • Ab Ostern 1910 begab er sich auf Wanderschaft und war bei Firmen im In- und Ausland tätig.
  • Ostern 1913 kehrte er nach Döbeln zurück und nahm eine Beschäftigung in der Fabrik Siemens/Schuckert in Dresden an.
  • Vom 18. Dezember 1914 bis 17. Dezember 1918 wurde er zum Militär eingezogen und erlebte die Schrecken des Ersten Weltkrieges.
Werbeanzeige 1930er Jahre
  • 1915 heiratete er während eines Heimaturlaubs Maria Linda Näcke, geb. Pönitz.
  • Nach dem Krieg wurde er erster Monteur beim Städtischen Betriebsamt Döbeln.
  • Schon immer hatte er den Drang unabhängig zu sein. Deshalb übernahm er im Oktober 1922 das das Elektrogeräte- und Installationsgeschäft von Ingenieur Backe im Haus Obermarkt 6.

(1) Links gut zu erkennen - das Elektro-Haus Herbert Näcke.
(2) Heute findet man im Haus Obermarkt Nr. 6 eine Filiale von "Ernsting's family" und die Geschäfte "Kleeblatt-Moden" und "Family Schuh".

  • Im Februar 1923 bestand er erfolgreich seine Prüfung als Elektromeister.
  • Von 1907 bis 1922 war Näcke Mitglied des deutschen Metallarbeiterverbandes. Ab 1925 ist er Mitglied der Döbelner Freimaurerloge.

Fotos aus den 1930 Jahren (Fam. Pönitz privat)

  • Unter anderem deshalb wurde er 1933 zeitweise in Schutzhaft genommen und von allen Berufsämtern entbunden.
  • Nach der Vernichtung der deutschen 6. Armee und verbündeter Truppen im Winter 1942/1943 in Stalingrad und weil seine beiden Söhne Horst und Werner als im Krieg vermisst gelten, betätigt sich Näcke im Widerstand. Er hört "Feindsender" und verbreitet die hier erhaltenen Informationen über die wirkliche Kriegssituation Deutschlands mündlich und auf Flugblättern.
  • Maßgeblich seiner Initiative ist es zu verdanken, dass am 06. Mai 1945 die Rote Armee kampflos in Döbeln einmarschiert und der Stadt so sinnlose Zerstörungen und Menschenopfer erspart bleiben.
  • Am 22. Mai 1945 wurde in Döbeln der erste Magistrat unter dem neuen Bürgermeister Kurt Birnbaum gewählt. Näcke übernahm das Amt des Rates für Handwerk und Gewerbe.
  • 1945/46 engagiert sich das SPD-Mitglied im Stadtrat. Nachdem 1946 in der sowjetischen Besatzungszone die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED stattgefunden hatte, eckt der Freigeist Näcke immer wieder an. Im Rahmen einer Säuberungsaktion wird er 1948 aus der SED ausgeschlossen.
  • Am 12. September 1952 starb Herbert Näcke mit 58 Jahren an einem Schlaganfall.

Schicksalsstunden der Stadt Döbeln

Erinnerung an das Kriegsende von Herbert Näcke

Antifaschistische Widerstandsbewegung sorgt für Aufklärung durch Handzettel

Die Stadt Döbeln wird weit und breit „Die goldene Stadt" genannt. Und weshalb? Weil sie im Gegensatz zu vielen Orten in Deutschland unversehrt geblieben ist. Weil ihr zuerst durch ein gütiges Schicksal die Schrecken eines Luftangriffes erspart geblieben sind. Aber dann vor allem, weil auch keinerlei Kämpfe in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges in ihr selbst oder in ihrer Umgebung stattfanden.

Tausende von Flüchtlingen durchzogen mit ihrer letzten Habe bepackt Tag und Nacht ziellos die Stadt. Da sämtliche Wegweiser im ganzen Land entfernt waren, entstanden Panik und Verwirrung. Große Transporte von zum Teil nur in Lumpen gehüllter KZ-Häftlinge wurden von SS-Schergen nach ihnen selbst unbekannten Zielen durch die Stadt gehetzt. Die Fliegeralarme mehrten sich täglich, oft kreisten Tiefflieger über dem Stadtgebiet.

Immer näher rückten die siegreichen Armeen. Die Russen überschritten auf breiter Front die Oder und die Neiße und stießen bis zur Elbe vor. Anfang April besetzten englische und amerikanische Truppen Leipzig und Chemnitz, Rochlitz und Geringswalde am 15. April. Panzerspitzen drangen bis Hartha und weiter bis zum Kreuz vor, standen also zwölf Kilometer vor Döbeln.

Wenn bis dahin der Kampfkommandant Adler und der Kreisleiter Rehfeld noch durch Aufrufe und Drohungen den Mut aufbrachten, die Bevölkerung zum Durchhalten aufzuputschen, so war es nun angesichts dieser Tatsache damit zu Ende. Ließen doch diese beiden Helden wenige Tage vorher Verhaftungen durchführen und noch Fleischermeister Albert Wünsch wegen seiner antifaschistischen Gesinnung am 23. April am Eichberg standrechtlich erschießen. Jetzt verloren sie voll und ganz den Kopf. Es wurde angeordnet, daß Hakenkreuzfahnen und alles Aktenmaterial der Parteidienststellen sofort zu verbrennen seien. Die Folge war, daß tagelang ein Ascheregen über Döbeln niederging. Auch der Wehrmachtsspeicher am Lazarett wurde der Bevölkerung zum freien Einkauf einige Tage geöffnet. Als sich dann aber nichts ereignete, vielmehr der Amerikaner seine Igelstellung am Harthaer Kreuz und in der Fröhne nicht aufgab, wurde diese Vergünstigung wieder aufgehoben.

Am 25. April 1945 erfolgte die welthistorisch bedeutende erste Begegnung sowjetischer und amerikanischer Truppen bei Torgau an der Elbe. Aber in Mittelsachsen, das frei vom Feinde war, befanden sich noch starke deutsche Kampfgruppen, deren Offiziere unter Führung von Generalfeldmarschall Schörner zum Äußersten entschlossen waren. Dafür sind viele Beweise vorhanden, denn die sinnlose Sprengung der lebenswichtigen Eisenbahn- und Straßenbrücken über die Mulde wie über die Elbe waren nicht so sehr Zeugnisse von Ratlosigkeit oder Wahnwitz, als vielmehr von verbissener Wut, um noch in letzter Minute des Kampfes dem Feinde Schaden zuzufügen. Es bestand die Möglichkeit, daß die einzelnen deutschen Einheiten, die oft noch von Volkssturm, SS und anderen Verbänden verstärkt wurden, durch ihren verantwortungslosen Leichtsinn und vor allem durch den verbrecherischen Entschluß ihres Herrn und Meisters, „[d]ie Waffen erst 5 Minuten nach 12 Uhr aus der Hand zu legen", noch Tausende von friedlichen Menschen in ihren unvermeidlichen Untergang mit einbeziehen konnten.

Die offenkundige Unfähigkeit des Hitlerregimes in jeder Hinsicht, die Empörung über das Verbrechen, das am deutschen Volke begangen wurde, und die große Sorge um sein Schicksal - vor allem seit der Katastrophe von Stalingrad - veranlaßten mich, seit Beginn des Jahres 1943 mit einigen beherzten Männern aus allen Schichten der Bevölkerung eine antifaschistische Widerstandsbewegung ins Leben zu rufen. Meine Männer, auf deren Vertrauen ich felsenfest bauen konnte, unterstützten mich willig bei der Verbreitung der von mir herausgegebenen Parolen. Durch systematisches Abhören feindlicher Sender, durch Erzählungen absolut zuverlässiger Freunde und Soldaten, die von den Kriegsschauplätzen kamen, vermochte ich mir immer ein einwandfreies Bild von der jeweiligen politischen wie militärischen Lage zu machen. Meine Helfer gaben meine Mitteilungen entweder von Mund zu Mund weiter oder sorgten für Aufklärung in noch weiteren Kreisen durch die von mir verfaßten Hand- und Wurfzettel. Die Vervielfältigung meiner antifaschistischen Propagandazettel erfolgte seit 1943 zuerst auf einer versteckt gehaltenen Schreibmaschine und später auf einem Abzugsapparat, dessen Matrize bei mir in einem sicheren Versteck ruhte.

Seit Anfang 1945 druckte Georg Hohmann mit Tom von Laahoven, einem absolut zuverlässigen holländischen Mitarbeiter, spät abends unter Aufbietung aller nur denkbaren Vorsichtsmaßregeln die Zettel in seiner Buchdruckerei. Das hört sich einfach an. Aber wenn man bedenkt, daß die Schriftsachverständigen der Gestapo nur an der Letterart feststellen können, in welcher Druckerei eine verbotene Schrift hergestellt worden ist, so ermißt man das Risiko, das auch der Drucker mit seiner illegalen Arbeit auf sich nahm.

Wir durften es nicht an größter Aufmerksamkeit fehlen lassen. Um durch etwaige Fundstellen der Flugblätter nicht im Vorhinein sofort auf den Ort Döbeln als Druckort schließen zu lassen, wurden durch unsere Vertrauensmänner in Waldheim wie in Roßwein die gleichen Flugblätter ausgeworfen. Und umgekehrt wurden die für diese Städte speziell verfaßten Flugzettel auch in Döbeln verteilt. Denn es war ja anzunehmen, daß der Polizei und Gestapo längst unsere Schriften vorlagen.

Daß unsere umfassende Aufklärungsarbeit auch Erfolg hatte, zeigte sich in dem Anwachsen unseres Kreises, besonders nach dem mißglückten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Die Zahl der Männer, die sich mir zur Verfügung stellten, wuchs, aber trotzdem war unsere Widerstandsbewegung zu schwach, um durch Empörung von innen heraus den Frieden bringen zu können.

Als Zeichen des Willens der Nazis, unbedingt an der Macht bleiben zu wollen, obwohl ja nur noch wenige Tage bis zur endgültigen Niederlage bevorstanden, erließ der Kreisleiter noch am 28. April 1945 einen Aufruf an die Bevölkerung.

Die Zahl der deutschen Deserteure wuchs täglich. Plünderungen in Kasernen, Bekleidungs- und Lebensmittellagern waren an der Tagesordnung. Alles drohte unterzugehen. Und je näher der Donner der Geschütze kam, um so mehr beschäftigte mich der Gedanke: „Wie kann ich Döbeln vor der unausbleiblichen Zerstörung bewahren? Wie kann ich Leben und Eigentum seiner Bürger schützen?"

Zu allem Unglück kam, daß ich am 20. April 1945 wegen politischer Unzuverlässigkeit noch zum „Militär" eingezogen wurde!

Mit Hacke, Schaufel und sonstigem Gerät bewaffnet, verließen wir am 23. April früh die Kaserne. Als Deutschlands letztes Aufgebot im Alter von 18 bis 65 Jahren marschierten wir über Masten bis Gut Schweta. Hier fand eine Beratung der Kompanieführer statt. Die Besatzung der „Hauptkampflinie", sechs bemooste Volkssturmmänner, jeder mit einer Panzerfaust bewaffnet, winkte uns auf ihrem Loch an der Gartenecke des Schlosses an der Zschopaubrücke zu. An der Pappenfabrik Pischwitz nochmals Rast, und dann ging es weiter über einen Notsteg - denn auch die Brücke über den Mühlgraben war gesprengt - hinein oder hinaus ins Niemandsland. Wir waren an der „Westfront", denn oben am Harthaer Kreuz standen die amerikanischen Panzerspitzen.

Schicksalsstunden der Stadt Döbeln

An der Kurve, kurz vor dem Dorfe Töpeln, mußten wir an zwei Stellen, in ungefähr 100 Meter Abstand voneinander, die Straße in einer Breite von vier Meter aufhacken. Zwei Panzerfallen mit etwa zwei Meter Tiefe sollten angelegt werden. Doch nur die obere wurde zum Teil fertiggestellt, konnte aber mit leichter Mühe umfahren werden.

Am 24. April verließen wir die noch schlummernde Stadt und zogen gen Osten. Es war ein jämmerlicher Anblick, das letzte Aufgebot über das holprige Pflaster dahinschlürfen zu sehen. Der Marsch ging über Präbschütz bis Markritz, nach Rast weiter bis Leuben, wo wir im Gewächshaus des Gärtners Keil für die erste Nacht Unterkunft fanden. Am Morgen ging es mit Schanzzeug bewaffnet durch das Dorf Wahnitz bis zu dem Lommatzsch vorgelagerten Höhenrücken, auf dem wir Schützenlöcher und einen Laufgraben auswerfen mußten. Die „Hauptkampflinie“ in der Lommatzscher Ebene vor uns bestand aus einem schweren und einem leichten MG. Und die Besatzung des Bahndammes und des Höhenrückens waren nur etwa 15 bis 20 Volkssturmmänner, die genau wie wir, erst vor wenigen Tagen zum Kriegsdienst eingezogen waren. Der Kampfkommandant, ein blutjunger SS-Offizier, übte unten im Dorf Wahnitz mit 20 bis 25 vierzehnjährigen Hitlerjungen die Anwendung der Panzerfaust. So sah die „Ostfront" im Abschnitt Lommatzsch-Zehren aus. An den Rauchfahnen und dem Artilleriefeuer, das grollend aus dem Elbtal zu uns herüberdrang, wurde uns gewahr, daß sich die Front langsam aber stetig zu uns heranschob. Als wir am 27. April morgens die schützende Dorfstraße verließen, um unsere Arbeiten fortzusetzen, bekamen wir heftig Feuer. Der Russe war bei Lommatzsch durchgebrochen und hielt unsere neugebaute Stellung besetzt. In das Quartier zurückgekehrt, packten wir schleunigst unsere Sachen und setzten uns in Richtung Heimat ab.

Ich hatte mir nach Leuben ein Fahrrad besorgt. Wir marschierten über Rüsseina und Choren bis Naußlitz, wo wir in einer Scheune Nachtquartier bezogen. Durch Zureden gelang es mir, vom Spieß bis 1 Uhr Nachturlaub zu erhalten. In Döbeln angelangt, besuchte ich einige meiner Männer. Während meiner kurzen Abwesenheit hatte sich auch Döbeln zur äußersten Verteidigung eingerichtet. Die Panzersperren an den Ausläufern der Stadt waren geschlossen, die Muldenbrücken unterminiert und zum Sprengen vorbereitet, in den Straßen kontrollierten Patrouillen die Passanten. Die Bevölkerung sah mit ängstlichen Erwartungen den kommenden Ereignissen entgegen.

Mit großer Sorge um das Schicksal unserer Stadt verließ ich in den frühen Morgenstunden Döbeln. Ich eilte meiner Kompanie nach, die nun nicht etwa in Richtung Döbeln, wie wir hofften, sondern südöstlich über Roßwein, Etzdorf, quer durch den Zellwald und weiter bis Reichenbach marschierte. Am nächsten Tag, den 30. April, ging es weiter über Freiberg bis Dorfhain.

Aufgrund einer schmerzhaften Zahnentzündung bekam ich für den 5. und 6. Mai Urlaub, den ich zur Zahnbehandlung in Döbeln verwenden wollte. Mit meinem Kameraden Kurt Köhler aus Sörmitz, einem Leidensgefährten, kam ich am Nachmittag in Döbeln an. Sofort nahm ich Verbindung mit meinen Männern auf.

Am Abend des 5. Mai 1945 wurde mir durch einen Vertrauensmann berichtet, daß Hauptmann Adler, der Kampfkommandant der Stadt Döbeln, mit seinem Stabe die Flucht vorbereite. Und tatsächlich hatten sich die Herren in der Nacht zum Sonntag, gegen 3 Uhr morgens, davongemacht. Ich konnte mich gegen 1/2 6 Uhr persönlich davon überzeugen, daß sich die „tapferen Verteidiger" unserer Stadt, vorläufig zwar nur nach dem Stadtgut Greußnig abgesetzt hatten, um von dort die weitere Fluchtvorbereitungen zu treffen. Auch der stellvertretende Kreisleiter Rehfeld war mit seinem Gefolge zugegen. Dieser Mann hatte noch vor wenigen Wochen den damaligen Stadtortältesten Oberst Biedermann verhaften lassen, da sich dieser, in nüchterner Erkenntnis der Lage, gegen eine Verteidigung der Stadt ausgesprochen hatte. Jetzt war Rehfeld genauso ratlos und schlotterte vor Angst und Ungewißheit, wie sein ganzer Anhang. Rehfeld war mit seinem Gefolge zugegen. Dieser Mann hatte noch vor wenigen Wochen den damaligen Stadtortältesten Oberst Biedermann verhaften lassen, da sich dieser, in nüchterner Erkenntnis der Lage, gegen eine Verteidigung der Stadt ausgesprochen hatte. Jetzt war Rehfeld genauso ratlos und schlotterte vor Angst und Ungewißheit, wie sein ganzer Anhang.

Unten in der Stadt begann der 6. Mai voller Aufregung und Unruhe. Die Läden wurden zum Teil durch die Hintereingänge gestürmt, da sich jeder noch mit Lebensmittel für eine möglichst lange Zeit versehen wollte. Trupps von schwerbepackten Flüchtlingen zogen ab. Die letzten noch transportfähigen Lazarettinsassen wurden nach Geringswalde oder Roßwein mittels Pferdegespanne verlegt. Durch einen Spezialtrupp ließ ich die entlang der Roßweiner Anlagen provisorisch für das Stadtgut Greußnig gelegte Fernsprechleitung an mehreren Stellen unterbrechen.

Zahllose Gerüchte über den Einmarsch der Russen schwirrten umher, andere hatten leibhaftig bereits amerikanische Soldaten gesehen. Am wahrscheinlichsten, auch nach der Richtung des mitunter deutlich vernehmbaren Geschützdonners zu urteilen, erschien mir die Mitteilung, daß die Rote Armee bereits bei Ostrau im Kampf stünde. Sofort fuhr ich mit dem Fahrrad in diese Gegend. Im grauen Nieselregen blieb ich unentdeckt. Über Möbertitz und Zschaitz gelangte ich in das Jahnatal. Bauern standen angstvoll lauschend in ihren Gehöften und warnten, es wären bei Ostrau schwere Schießereien im Gange. Und tatsächlich. Es fanden lebhafte Kämpfe statt. Lose deutsche Truppenverbände hatten sich hier und da eingegraben. Ich konnte ungehindert bis zum Kalkwerk Münchhof vordringen. Weiter kam ich nicht. Es war hier völlig ausgeschlossen, mit der Roten Armee in Verbindung zu treten. Unverrichteter Dinge mußte ich wieder umkehren und kam völlig durchnäßt in Döbeln an.

Aber auf der Rückfahrt war das Dröhnen von Motoren und das unverkennbare Rollen von Panzern von der Staatsstraße Ostrau-Mügeln-Döbeln zu mir herübergedrungen. Für mich stand fest, daß der Angriff von Nordwesten, also über Zschepplitz, erfolgen würde.

Inzwischen war in Döbeln gegen 1/2 1 Uhr zum ersten Male während des Krieges Panzeralarm gegeben worden. Dieses Zeichen machte mit einem Schlag der gesamten Bevölkerung den unerbitterlichen Ernst der hoffnungslosen Lage bewußt. Die Väter und Mütter bangten um ihre Kinder, die Frauen um ihre Männer. Bei einer Rundfahrt mit meinem Motorrad, das mir inzwischen Meister Kossack fahrbereit gemacht hatte, stellte ich fest, daß die Erregung der Einwohnerschaft ins Unermeßliche wuchs.

Zudem waren noch zahlreiche Panzersperren an den Ausgängen der Stadt vorhanden. Blieben sie geschlossen, so war mit tödlicher Sicherheit zu erwarten, daß sich die Vorhuten der Russen auf einen Kampf vorbereiten würden. Und da die Sperren sämtlich in der Nähe von Wohnhäusern, ja zwischen ihnen errichtet waren, so lag das Schicksal der dort befindlichen Menschen klar auf der Hand.

Die Besatzung der Panzersperren, meist ältere Volkssturmmänner, hatten - im Gegensatz zu den Offizieren - wenig Lust zu der aussichtslosen Verteidigung. Kleine Kampfgruppen setzten sich geschlossen nach den östlichen Stadtteilen und in Richtung Roßwein ab. Ganze Einheiten folgten ihrem Beispiel, und die Bevölkerung Döbelns sah ihnen ohne zu trauern nach.

Nach meiner Rückkehr traf ich vor der Polizeiwache den Oberbürgermeister Gottschalk. Ich sprach von meiner Kontrollfahrt und stellte ihn vor Augen, was für eine Gefahr er leichtfertigerweise über die ganze Stadt heraufbeschwören würde, wenn die Panzersperren noch länger erhalten blieben. Und daß er doch für das Leben der Einwohnerschaft verantwortlich sei. Doch der letzte Nazi-Oberbürgermeister gab mir nur ausweichende Antworten. Er habe noch keinen Befehl vom Kampfkommandanten bekommen und würde diesen jetzt kaum finden. Von seiner Verantwortung der Stadt gegenüber sagte er kein Wort Er stieg in seinen Wagen und verschwand. Feige und verantwortungslos ließ er die Stadt im Stich und fuhr vermutlich dem Kampfkommandanten wie dem sauberen Kreisleiter hinterher. Auf Nimmerwiedersehen!

Aber die Panzersperren standen nach wie vor. Zu diesem Zeitpunkt schritten bereits einige beherzte Männer zur Selbsthilfe. Karl Krötel, der frühere Stadtrat, ließ sich trotz des strikten Verbotes seitens der aufgeregten Polizei nicht daran hindern, die Sperren, die an der Dresdner-, Oschatzer- und Ziegelstraße dicht beieinanderlagen, zu öffnen. Selbst der drohend vorgehaltene Revolver eines Offiziers schreckte ihn nicht mehr ab. Die Bewohner der angrenzenden Häuser halfen eifrig mit. Auch verlangte er in diesem Stadtteil, daß zum Zeichen der Kapitulation weiße Tücher in den Fenstern ausgelegt und weiße Fahnen gehißt wurden. Auf meine Veranlassung folgten die Leipziger-, Georgen-, Kloster- und Ritterstraße diesem Beispiel. Zum ersten Mal hingen in der Stadt die Zeichen der bedingungslosen Kapitulation. Bei einer Kontrollfahrt stellte ich fest, daß Kaufmann Friedrich mit Anwohnern die Sperre an der Leipziger Straße beseitigt hatte, bedenklich dagegen war, daß die an der Mühle Günther in Großbauchlitz noch geschlossen war. Ich entschloß mich, umgehend Verbindung mit der Roten Armee aufzunehmen, um die Stadt vor einer Beschießung zu bewahren. Höchste Eile war geboten. In aller Geschwindigkeit ließ ich durch die antifaschistische Widerstandsbewegung die von mir herausgegebenen Flugblätter verteilen. In allen Stadtteilen riß die Bevölkerung meinen Helfern die Blätter aus der Hand, auf denen folgendes stand:

„Achtung Döbelner!

In dieser schicksalsschweren Stunde unseres Vaterlandes rufen wir Euch zur Mitarbeit auf. Die Nazis haben auch in unserer Stadt den Werwolf ins Leben gerufen und wollen die anrückenden Feindpanzer aus Hausfluren und Wohnungen angreifen. Verhindert Euch unbekannten Personen den Zutritt zu Euren Wohnungen, aber merkt sie Euch!

Für jede aus dem Hinterhalt geworfene Handgranate werden die Besatzungstruppen vielfache Vergeltung üben. Laßt Euch nicht durch Drohungen einschüchtern, - die Stunde der Vergeltung naht. Nur so verhütet Ihr ein Bombardement unserer Stadt. Bewahrt Ruhe. Legt beim Eintreffen feindlicher Panzerspitzen weiße Tücher aus den Fenstern, aber meidet die Straße.

Es lebe das Vaterland.

Das Nationale Komitee."


Mein Vertrauensmann bei der Polizei, Meister Schubert, wurde in mein Vorhaben eingeweiht. Dann fuhr ich mit meinem Motorrad den heranrückenden Russen entgegen. Volkssturmmänner und kleine Einheiten, die in der „Weißen Taube" untergebracht waren, flüchteten stadtwärts. Während der Fahrt hörte ich, wie Artilleriegeschosse im Stadtgebiet mit dumpfen Gedröhn explodierten. Es fielen Granaten in die Ortsteile Klein- und Großbauchlitz, in die Klostergärten und in den Schlachthof. Auf der Großbauchlitzer Brücke wurde ich dreimal beschossen, aber die MG-Salven gingen zum Glück über mich hinweg. Da die Panzersperre immer noch geschlossen war, mußte ich umkehren. Ich schob mein Motorrad entlang der Gartenkolonie durch Günthers Grundstück und stellte es am Eingang der Mühle ab. Um mich war eine drohende Stille, eine Nervenprobe wie nur selten im Leben eines Menschen. Über den Gartenzaun sah ich größere russische Truppeneinheiten den Zschepplitzer Weg herunterkommen, außerdem beobachtete ich, wie sich am Anfang der Grimmaischen Straße ein russischer Spähtrupp anschlich. Ja, ich war an der richtigen Stelle, um Verbindung mit der Roten Armee zu bekommen. Da gesellte sich Malermeister Berthold zu mir, der sich über die noch geschlossene Sperre sehr entrüstete. Ich riet ihm, diese mit Hilfe von Einwohnern sofort zu beseitigen. Wenige Minuten danach erschien ein russischer Motorradfahrer, er fuhr bis zur Sperre, warf sein Rad herum und raste zurück. Wieder war die Hoffnung gescheitert, mit den Russen in Verbindung zu treten. Da entdeckte ich einen alten Mann am Fenster. Ich rief ihm zu: „Hängt weiße Tücher ans Fenster!", worauf er ungläubig fragte: „Ob's auch nicht schiefgeht." „Jetzt bestimmt nicht mehr", war meine Antwort.

Kurze Zeit danach hörte ich Schritte. Ein Zivilist kam stadtwärts geschlendert, gemächlich, die Hände in den Hosentaschen. Er hatte einen blauen Pullover an, trug ziemlich zerknüllte Hosen und machte, seinem Gesicht nach zu urteilen, ganz den Eindruck eines Ostarbeiters. Ich rief ihn an und fragte, ob er Russen gesehen habe. Nein, antwortete er in einem ausgezeichneten Deutsch, doch dabei sahen seine Augen forschend umher. Er zeigte auf die Straße nach der Stadt und fragte: „Sind die Menschen da vorn Soldaten?" - Es waren die Anwohner, die mit Berthold zur Beseitigung der Panzersperre im Anmarsch waren. „Nein, es sind Zivilpersonen", antwortete ich, und das schien ihn zu befriedigen. In einem lebhaften Tonfall fragte er mich plötzlich: „Was wollen Sie eigentlich hier? - „Ich will mit den Russen Verbindung aufnehmen", antwortete ich. „Ich bin der Führer einer antifaschistischen Widerstandsbewegung und will mit ihnen wegen kampfloser Übergabe der Stadt Döbeln in Verbindung treten!" Mein Gegenüber sah mich zuerst mißtrauisch an, dann erhellten sich seine Züge und voller Eifer sagte er. „Das können Sie tun. Ich bin Russe, ein Dolmetscher. Folgen sie mir." Ich enthüllte meine weiße Fahne und marschierte mit meinem neuen Bekannten die völlig menschenleere Straße entlang zur Villa Selma. Hier befand sich die Spitze der russischen Vorhut. Ich wurde einem Offizier vorgestellt, der mein Anliegen anhörte, aber energisch und bestimmt ablehnte. „Es ist zu spät, es ist zu spät", wiederholte er mehrere Male. „Sehen Sie...", damit zeigte er auf die Ziegraer Höhen südwestlich der Stadt. Und wirklich, da oben, bei dem nunmehr aufgehellten Wetter klar erkennbar, etwa von der Mitte der Straße Döbeln-Waldheim aus, setzte deutscher Beschuß ein. Es mußten Artilleriegeschosse sein, nach dem dumpfen Dröhnen zu schließen. Aber auch das Tacken von MGs war vernehmbar, wie einzelne Gewehrfeuer. Es war eine mehr als ernste Situation. Die Russen standen im Begriff, in die Stadt Döbeln einzuziehen. Ich hoffte inständig, daß in diesem Augenblick die Panzersperre hinter uns aus dem Wege geräumt würde, was tatsächlich auch geschah. So konnten ja die Russen von meinem guten Willen überzeugt sein und ohne jeglichen Widerstand in die Stadt hineinrollen. Und da setzte nun ausgerechnet deutsches Feuer ein. Es war zum Verzweifeln! Russische Truppen waren inzwischen die Zschepplitzer Straße heruntergestürmt und hatten Geschütze in Stellung gebracht. Nun erzählte auch noch der Dolmetscher, daß er am Vormittag bereits in der Stadt gewesen sei und dort allerhand Truppen und größere Volkssturmeinheiten gesehen habe. Man habe ihn als Spion verhaftet, doch sei es ihm mit großer List gelungen, sich wieder zu befreien.

Die Situation für die Rettung der Stadt hing am seidenen Faden, doch ich betonte immer wieder meinen Unterhandlungswillen. Schließlich hatte ich Erfolg. Der Dolmetscher brachte mich Richtung Zschepplitz zu einem anderen Offizier, und dieser verwies mich an den Abschnittskommandenten. Bei ihm begann das Frage- und Antwortspiel noch einmal.

Nach Minuten des Überlegens fragte mich der Abschnittskommandant, ob ich dafür garantieren könnte, daß wir auf der Fahrt zum Döbelner Rathaus nicht beschossen würden. Das konnte ich natürlich nicht. „Es gibt noch Fanatiker, und die Mitglieder der getarnten „Werwolfbewegung" sind zu beachten. Doch würde ich mit dem Motorrad als Parlamentär mit der weißen Fahne voraus fahren", so meine Antwort. Dem Offizier war das nicht sicher genug. Er hielt es für besser, wenn ich in seinem Wagen mitfahren würde. Doch ausgerechnet in diesem Moment meldete ein Spähtrupp, daß in südlicher Richtung drei deutsche Panzer und ein Panzerspähwagen gesichtet worden seien. Sofort erwachte wieder Mißtrauen bei den russischen Offizieren. Doch schließlich konnte ich ihren Argwohn zerstreuen, gemeinsam fuhren wir in die Stadt. Am Bahnübergang vor dem Gasthof „Stadt Döbeln" stand ein Trupp Ostarbeiterinnen von der Firma Rudolf Neider in ihrer netten einheitlichen Kleidung und winkte uns begeistert zu. Die gleiche Freude am Forsthaus, hier begrüßten die Ostarbeiter der Firma Großfuß ihre russischen Befreier. Weiter ging es die Bahnhofstraße hinunter, über den Niedermarkt und durch die Fronstraße. Fenster wurden aufgerissen, Frauen winkten, als sie mich erkannten. „Die Russen sind da“ - wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Überall wurden weiße Tücher aus den Fenstern gehangen.

Am Rathaus machten wir halt. Auch auf dem Obermarkt hißten, auf meine Aufforderung hin, die Anwohner zum Zeichen der Kapitulation weiße Fahnen. Das Rathaus war verschlossen. Gemeinsam gingen der Kommandant, dessen Adjutant, der Dolmetscher und ich zur Polizeiwache. Dort fragte ich nach dem Oberbürgermeister und nach Polizeihauptmann Berger. Wie vorauszusehen, waren beide nicht da. Nur Stadtrat Röher konnte aus seinem Dienstzimmer herbeigeholt werden.

In Zimmer 7 begannen die denkwürdigen Verhandlungen. Der Kommandant gab die erste Verordnung bekannt, die sofort in der Druckerei Thallwitz gedruckt und umgehend in der Stadt überall angeheftet wurde. Dem Stadtrat und mir übergab der Russe die kommissarische Verwaltung der Stadt Döbeln, bevor er sich durchaus herzlich von uns verabschiedete.

Die Verordnung, die ich auch durch Lautsprecher bekanntgeben ließ, lautete:

Das russische Oberkommando gibt bekannt: Die Stadt Döbeln ist mit russischen Truppen besetzt.

Der Kampf ist vorüber.

Alle Schußwaffen und Munition sind sofort bei der Polizeiwache abzugeben; dieser Befehl gilt sowohl für Zivil- wie Militärpersonen. Wer die Waffen nicht abliefert, wird streng bestraft.

Alle Soldaten und Volkssturmmänner, sie sich im Stadtgebiet aufhalten, haben sich sofort in der Polizeiwache zu melden und da selbst ihre Waffen abzugeben.

Die Verdunklungsvorschriften sind weiterhin einzuhalten.

Den Anweisungen der Ordnungspolizei ist Folge zu leisten.

Jedes Haus muß eine weiße Fahne hissen.

Die Sicherheit der Bevölkerung, insbesondere der Frauen und Kinder, wird nach jeder Richtung hin gewährleistet.

Plünderungen werden mit dem Tode bestraft.

Täglich von 22 bis 7 Uhr besteht bis auf weiteres Ausgehverbot.Döbeln, den 6. Mai 1945

Das Komitee"

Ich begleitete die Russen zu ihren Wagen zurück und nahm dort mein Motorrad, das eine Ordonanz nachgefahren hatte, wieder in Empfang.

Und jetzt erfuhr ich erst, daß keine 20 Minuten vor unserer Ankunft tatsächlich drei deutsche Panzer eine Schleife durch die Stadt beschrieben, den Obermarkt passiert, dabei den Verkehrsteiler vor dem Kaufhaus Rudolf überfahren und die Stadt in Richtung Roßwein verlassen hatten. Wären sie uns, der Übergabe-Abordnung begegnet, so hätte es eine Katastrophe bedeutet.

Die Besetzung der Stadt am 6. Mai 1945

Gegen 1/2 3 Uhr begann der Einmarsch der Roten Armee. Unübersehbare Kolonnen von russischen Truppen zogen in Richtung Roßwein, Nossen, Waldheim und Hartha durch die Straßen der Stadt. Panzer über Panzer rollten unheimlich dröhnend in langen Zügen hintereinander, gefolgt von Lastautos, Spähwagen und Fuhrwerken mit geduldigen, ausdauernden Pferden.

Im Nu war der Bann von der Bevölkerung gewichen. Die alles lähmende und erstickende Angst vor dem, was die nächsten Stunden bringen würden, hatte einem befreiten Aufatmen Platz gemacht. Die Russen waren ja gar nicht so, wie sie den Deutschen immer dargestellt wurden Es waren Menschen wie wir. Vergnügt, da das Ende des Krieges bevorstand. Sie waren ausgezeichnet gekleidet und - im Gegensatz zu uns - glänzend ernährt.

Die Erwachsenen waren anfangs noch etwas scheu und befangen. Der Übergang vom Alten zum Neuen war zu schnell erfolgt. Er war zu stark, als daß man sich mit einem Schlag in das wiedergeschenkte Leben versetzen konnte. Doch es hätte, durch einen einzigen Schuß eines Fanatikers, auch ganz anders kommen können... Stattdessen riefen die Russen von ihren Panzern, auf denen sie zu Dutzenden saßen, zu den Fenstern hinauf, sie winkten und lachten. Ja, manche hatten sogar ein Instrument bei sich, eine Balalaika oder eine Gitarre, und ihre machtvollen Lieder klangen zum ersten Mal gewaltig von den Häusermauern der Stadt Döbeln wider.

Hielten sich die Großen noch etwas zurück, so waren die Kinder sofort in ihrem Element. Sie zeigten den Russen den Weg und brachten ihnen Wasser, streichelten die Pferde, begutachteten die Autos. Und bekamen die Kinder -wie es oft genug vorkam- etwas geschenkt, so rannten sie mit dem Brot oder der Wurst freudig nach Hause. Bald erschienen auch die Erwachsenen mit Eimern voller Wasser, um die durstigen Pferde zu tränken.

Die Macht der Roten Armee trat bereits in den ersten Stunden ihres Einzuges überwältigend in Erscheinung. Es gab einen Vormarsch, der ohne Halt, ohne Stocken und Verzögerung im Dienste eines gewaltigen, starken Willen stand: Diesen Krieg mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht voll und ganz zu beenden! Es waren Stunden ungeheuersten Erlebens. Ein Tag, der für alle Zeiten in die Geschichte unserer Stadt eingehen wird.

Es läßt sich heute nur schwer nachempfinden, was an jenem Maisonntag 1945 in der Brust der Männer vor sich ging, die für das Schicksal ihrer Vaterstadt mutig und bewußt die Verantwortung auf sich nahmen. Es ist ihnen gelungen, die Bewohner sowohl der Stadt Döbeln, wie auch ihrer Umgebung, vor Not und Elend zu bewahren. Diese Tatsache erkennt man erst voll und ganz, wenn man durch andere Städte Sachsens geht und sieht, daß sich deren Einwohner aus den Trümmern eine neue Heimstadt aufbauen müssen. Die Döbelner haben ihr Dach über dem Kopf behalten.

Doch der Weg des Aufbaues eines normalen Wirtschaftslebens ist auch für die Stadt Döbeln nicht leicht gewesen. Die von der russischen Kommandantur ernannten neuen Behörden konnten sofort die ersten Maßnahmen einleiten, die auf die Wieder-Ingangsetzung einer geordneten Verwaltung abzielten. Es galt, zuverlässige Männer zu finden, die in Amtsstellen die neue, antifaschistische-demokratische Gesinnung vertraten und die zum Aufbau eines Staates, der ja noch gar nicht vorhanden war, die geeigneten Voraussetzungen schufen. So wurde noch am Abend des 6. Mai ein Stadtkomitee gebildet und mit der Aufstellung einer Hilfspolizei begonnen.

Antifaschisten aller Schichten der Bevölkerung wie Kurt Birnbaum, Albert Berthold, Fritz Altknecht, Borowski, Arthur Dittrich, Willy Dietrich, Arno Dietze, Marie Eichel, Paul Grünert, Carl Friedewald, Georg Hohmann, Max und Arno Hanke, Anna Jähnig, Walter Käbisch, Walter Kuchanny, Gustav Krohn, Karl Krötel, Else und Kurt Kränkel, Adolph Lantzsch, Werner Manneberg, Karl Meschedes, Eugen Moll, Bernhard Müller, Otto Neuhäuser, Herbert Näcke, Felix Roßmann, Arthur Reiche, Otto Seibt, Gerhard Steingräber, Kurt Steinmüller, Rudi Schmidt, Paul Schwarzbach, Otto Schubert, Arthur Thieme, Ernst Umlauf, Rudolf Voigtländer, Willy Walther, Max Werner, Emil Zschunke, Oswald Zeibig, Richard Zieger und viele andere stellten sich in uneigennütziger Weise zur Verfügung. Als russische Sprachkundige nahmen die Dolmetscher Moll, Friedewald, Borowsky und Lantzsch ihren Dienst auf. Als erstes wurde mit der Sicherung der Lebensmittelvorräte begonnen. Es gab mitunter Schwierigkeiten, aber niemals ein Ausbleiben von Nahrungsmitteln. Wegen des Ausfalls der Molkereifahrzeuge wurden Handwagenkolonnen gebildet. Die Ingenieure Moll und Kuchanny schufen mit ihren Männern eine provisorische Stromversorgung, indem sie vom Werk Tümmler eine Verbindung nach dem Stadtnetz legten.

Eines der schwierigsten Probleme war die Rückführung der zahlreichen Ausländer und Ostarbeiter, was angesichts der zerstörten Verkehrswege geradezu unmöglich erschien. Aber es gelang!

Die Versorgung der Tausenden von Flüchtlingen bereitete schwere Sorgen. Die Rückwanderer und Ausgebombten wurden in der Werkküche Tümmler verpflegt. Hier waren es wieder Moll und Kuchanny, die mit ihren Helfern bis 1500 Menschen täglich beköstigten. Die erforderlichen Lebensmittel stellten die Döbelner Lebensmittelhändler zur Verfügung. Untergebracht wurden die Ärmsten in den Barackenlagern und Schulen. Dutzende von Trecks schlesischer und pommerscher Bauern wurden täglich durch die Stadt geschleust und ihnen mit Gespann und Zugtieren ausgeholfen.

Die russische Kommandantur zog ins Rathaus. Die frühere Arbeitsfront wurde als Bürgermeisterei eingerichtet, die den Bewohnern in ihrer übesichtlichen Anordnung zu einem Begriff von Ordnung und gutem Willen im öffentlichen Leben wurde.

In einer am 22. Mai 1945 unter Vorsitz von Kommissar Remischenko stattgefundenen Sitzung wurden zum ersten Magistrat gewählt und verpflichtet: Kurt Birnbaum, Erster Bürgermeister; Arthur Dittrich, Zweiter Bürgermeister und Amt für Handel und Versorgung; Herbert Näcke, Rat für Handwerk und Gewerbe, Karl Meschedes, Rat für Kommunale Einrichtungen; Paul Schwarzbach, Rat für Gesundheitswesen; Walter Käbisch, Rat für Kultur- und Schulfragen; Adolph Lantzsch, Rat für Sozialfragen; Paul Grünert, Chef der Polizei; Rudolf Schmidt, Chef der Ordnungspolizei; Max Hanke, Chef der Kriminalpolizei; Fritz Altknecht, Chef der Feuerwehr; Gerhard Steingräber, Sekretär.

Die Verordnungen waren mitunter hart, aber sie dienten dem Wohl der Gesamtheit. Und sie waren richtig, denn das Leben wurden von Tag zu Tag normaler. In steigendem Maße flossen landwirtschaftliche Produkte in die Stadt, reichlich konnte die Bevölkerung mit Gemüse und Obst versorgt werden. Eine Großmarkthalle wurde in Betrieb genommen, die die zentrale Lenkung der ganzen Lebensmittelversorgung ermöglichte. Es entstanden die Zentral-Ein- und Verkaufsgenossenschaft, die Industrie- und Handelskammer, eine Fahrbereitschaft zur straffen Zusammenfassung des Transportwesens, und die Handwerkerschaft bildete zwecks schneller Erledigung von plötzlich auftretenden Reparaturaufträgen Arbeitsgemeinschaften.

Die notleidende Bevölkerung in Dresden, Leipzig, Chemnitz und im Erzgebirge wurde auf Veranlassung des Landrates Kränkel mit Lebensmitteln und Frühgemüse versorgt. Neue Parzellen wurden vergeben, und Arbeitskräfte auf das Land geschickt, um bei der Feldbestellung zu helfen. Aus Rohstoffen, die bisher nur der Vernichtung gedient hatten, wurden in den Betriebsstätten Haus-, Küchen- und landwirtschaftliche Kleingeräte hergestellt In den Schaufenstern der Läden erschienen die ersten Erzeugnisse der heimischen Industrie. Auch das kulturelle Leben begann sich wieder zu regen. Das Stadttheater öffnete seine Pforten und die Kinos begannen ebenfalls wieder zu spielen. Außerdem wurden neue Betriebe eröffnet. So gründete die Firma „Kuchanny & Bober" eine Fabrik für Beleuchtungskörper, die Firma „Hacker & Co", Karl Scholz sowie „Krenkel & Weber" je eine Maschinenbauanstalt. Ingenieur Wagner eine Zylinderschleiferei, „Lindner & Däberitz" eine Konserven- und Gemüseverarbeitungsfabrik Die chemisch-pharmazeutische Fabrik von „Weiß & Co", verlagerte und vergrößerte ihre Fabrikationsräume. Das städtische Zweckunternehmen „Döbelner Sanitätsgenossenschaft" schuf eine größere Produktionsstätte. Eine Tabakverwertungs GmbH wurde gegründet und weitere viele Klein-Werkstätten.

Infolge der Wiedergutmachung und Zertrümmerung des Kriegspotentials wurden die Firmen „Rudolph Neider", „Liebert & Gürtler", „Johannes Großfuß", „H. W. Schmidt", „Robert Tümmler" und „Franz Richter" demontiert. Sämtliche Firmen erhielten die Wiederanlaufgenehmigung, beteiligen sich ausnahmslos in gegenseitigem Wettbewerb und am Wiederaufbau der Friedenswirtschaft.

So war es kein Wunder, daß in den Kreisen der Flüchtlinge und Umsiedler, die mit Bewunderung und oft schmerzlich-wehmühtigem Staunen die Straßen unserer Stadt passierten, das bereits am Anfang dieser Aufzeichnungen erwähnte Wort von der „goldenen Stadt" aufkam. Ja, eine goldene Stadt war Döbeln wirklich geblieben, dank der Gunst des Schicksals.


Das Original der Aufzeichnungen Herbert Näckes befindet sich im Döbelner Stadtarchiv.









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